Franziskaner Fuhrmann: Die Solidarität Gottes schenkt Hoffnung
Während der letzten Wochen meines Zivildienstes in den 90er Jahren nahm ich an einem Reflexionsseminar der Seelsorge für Zivildienstleistende teil. Das Seminar stand in Anlehnung an Udo Lindenbergs berühmten Song unter der Überschrift "Hinterm Horizont geht's weiter". Es bot uns Teilnehmern die Gelegenheit, auf die unterschiedlichen Erfahrungen der Zivi-Zeit zurückzublicken und herauszufinden, mit welchen Erwartungen, Hoffnungen, aber auch Befürchtungen wir nun unseren nächsten Lebensabschnitt beginnen. Im Laufe dieser sehr intensiven und fröhlichen Tage im Hunsrück sollte jeder von uns einen Brief an sich selbst schreiben. Die Seminarleiter wollten uns unsere Briefe ein Jahr später zuschicken. Als mein Brief mich nach 12 Monaten in meiner Studentenbude in Trier erreichte, war das eine sehr berührende Erfahrung: Manche Erwartungen hatten sich tatsächlich erfüllt, manche Befürchtungen sich als völlig unbegründet erwiesen. Aber auch ganz Überraschendes hatte sich ereignet, Belastendes wie Erfreuliches. Diese Erfahrung schenkte mir ein Stück Gelassenheit. Tatsächlich: "Hinterm Horizont geht's weiter!"
Im Dauer-Krisen-Modus
Ein Jahr der sich überlappenden Krisen geht zu Ende: Klima-Krise, Corona-Krise, Ukraine-Krise, Kirchen-Krise… Das alles kostet Menschen Kraft und verunsichert sie. Es fällt auf, dass die gesellschaftlichen, die politischen wie kirchlichen Auseinandersetzungen radikaler und schärfer werden. Protestgruppen greifen zu endzeitlicher Sprache ("Letzte Generation"), und manche Krisensymptome interpretieren nicht wenige Menschen als apokalyptisch. Die Versuchung, alles in ein Schwarz-Weiß-Schema einzuordnen ist groß. Und dann kommen ja noch die ganz persönlichen Baustellen hinzu, die das Leben schwermachen. Da kann einem schon mal die Puste ausgehen.
Wie können Menschen angesichts dieses Dauer-Krisen-Modus einigermaßen hoffnungsvoll in eine ungewisse Zukunft gehen? Was bewahrt Menschen davor, den Glauben zu verlieren, dass es "hinterm Horizont" tatsächlich weitergeht? Und wie sieht das bei mir persönlich aus? Was gibt mir Hoffnung in dieser Zeit?
Ich glaube, es sind zwei grundlegende Erfahrungen, die mir bei allen Herausforderungen des Lebens, bei allem Zweifel und bei allen Anfechtungen, immer wieder Kraft und Zuversicht schenken.
Ich gehe nicht allein
Die erste Erfahrung: Ich bin nicht alleine unterwegs. Ich habe – Gott sei Dank! – eine Familie, auch wenn keiner meiner Angehörigen um die Ecke wohnt. Meine Familie hat mich maßgeblich geprägt, in ihr wurzele ich.
Außerdem: Ich lebe nicht allein; ich lebe in einer Ordensgemeinschaft. Ich habe Mitbrüder, mit denen ich mein Leben und meine ungewöhnliche Lebensform als Franziskaner teile. Das ist manchmal anstrengend und herausfordernd, in der Regel aber eine Bereicherung. Die Franziskaner sind ein Weltorden; rund um den Globus leben Mitbrüder. Der Austausch mit ihnen relativiert im guten Sinne manche allzu begrenzte Sichtweise und lässt mich über den Tellerrand meiner eigenen kleinen Welt schauen.
Dankbar bin ich auch für meine Freundinnen und Freunde. Die Beziehung zu ihnen gibt mir trotz räumlicher Distanz immer wieder Kraft und Inspiration. Als Weggefährtinnen und Weggefährten über die Jahre und Jahrzehnte haben sie ein Ohr und ein Herz für mich und ich für sie. Und ganz wichtig: Sie helfen mir auch schon mal auf die Sprünge, wenn ich mich verrannt habe.
Dann sind da die vielen Mistreiterinnen und Mitstreiter in den unterschiedlichen Gruppen und Initiativen, denen ich mich verbunden fühle: im Bereich der Friedens- und Menschenrechtsarbeit, der Ökologie, der Ökumene und der kirchlichen Reformbewegungen. Ich spüre: Wir kämpfen gemeinsam für eine gerechte, friedliche und nachhaltige Welt.
Gott: Unbegreiflich, ganz anders und doch da
Und schließlich ist da Gott. Unbegreiflich, ganz anders und doch da. Bei einer Meditationsübung im Rahmen einer Gruppenleiterschulung in meiner Jugendzeit ging mir plötzlich auf: Gott geht alle meine Wege mit - immer, bei allem, oft genug auch trotz allem. Ein Bild, das mich schon seit vielen Jahre begleitet, ist die Ikone "Christus und Abt Menas". Manche kennen sie aus Taizé. Sie drückt meine Christus- und Gottes-Beziehung treffend aus: Da gibt es jemanden, der (meist unerkannt) mit mir geht, meinen Blick und meine Füße nach vorne ausrichtet und mir den Rücken stärkt.
Dieses Vertrauen auf das Da-Sein und die Solidarität Gottes war es wohl, das mir neue Kraft schenkte, als ich um den Jahreswechsel herum mit ziemlich schwierigen persönlichen Fragen konfrontiert wurde und infolgedessen grundlegend über mein Ordensleben ins Nachdenken kam. Die Überzeugung, dass Gott mich so liebt wie ich bin und mir den Rücken stärkt, schenkte mir dann im Januar den Mut, mich der Kampagne #outinchurch anzuschließen und mich damit als queer zu outen. Der Glaube, dass Gott nicht nur Lebenswege mitgeht, sondern diese auch zu vollenden vermag, spendete mir Trost, als am Ostermontag mein Vater verstarb. Die Zuversicht, dass Gottes Geistkraft uns führen wird, hat es mir leichter gemacht, das Amt des Provinzials anzunehmen, in das meine Mitbrüder mich beim Provinzkapitel in der Pfingstwoche gewählt haben. Und das Vertrauen, dass Gott schon wissen wird, was er mit unserer Ordensgemeinschaft vorhat, lässt mich meinen Weg als Franziskaner zuversichtlich weitergehen, auch wenn schon seit mehreren Jahren niemand mehr in unsere Ordensprovinz eingetreten ist.
Gott geht mit. Das Weihnachtsfest führt diese Zuversicht in besonders anschaulicher und berührender Weise vor Augen: Gott ist wirklich der Immanuel, der Gott-mit uns. Er bleibt nicht in himmlischer Herrlichkeit, sondern er kommt herunter, macht sich klein, wird Mensch und teilt unser Leben – bis in den Tod. Das lässt mich hoffen.
In meinem Leben geht es letztlich nicht um mich
Eine zweite Erfahrung schenkt mir Hoffnung: Klar, ich bemühe mich gewöhnlich, mein Bestes zu tun. Als Mensch in dieser Gesellschaft, als Christ, als Franziskaner… Aber das Heil der Welt, die Zukunft von Kirche und Orden und mein persönliches Glück hängen nicht allein von mir ab. Überhaupt geht es in meinem Leben letztlich nicht um mich. Das mag zunächst etwas schräg klingen. Wie kann es in meinem Leben nicht um mich gehen? Aber es stimmt.
In einer Meditation brachte der 1980 ermordete und inzwischen heiliggesprochene Erzbischof von San Salvador, Monseñor Oscar Romero, diesen Gedanken folgendermaßen auf den Punkt: "Wir können nicht alles tun. Es ist ein befreiendes Gefühl, wenn uns dies zu Bewusstsein kommt. Es macht uns fähig, etwas zu tun und es sehr gut zu tun. Es mag unvollkommen sein, aber es ist ein Beginn, ein Schritt auf dem Weg, eine Gelegenheit für Gottes Gnade, ins Spiel zu kommen und den Rest zu tun. Wir mögen nie das Endergebnis zu sehen bekommen, doch das ist der Unterschied zwischen Baumeister und Arbeiter. Wir sind Arbeiter, keine Baumeister. Wir sind Diener, keine Erlöser. Wir sind Propheten einer Zukunft, die nicht allein uns gehört."
Mein Leben, der Orden, die Kirche – das alles ist nur vorläufig, hat seinen letzten Sinn und Zweck nicht in sich selbst. Es geht um mehr! Christen nennen dieses "Mehr" das Reich Gottes oder Gottes neue Welt. Jesus hat in seinem Reden und Handeln deutlich gemacht, was das bedeutet. Da, wo Mensch und Schöpfung heil werden, geschieht Reich Gottes. Das kann ich nicht aus eigener Kraft hervorbringen; das ist ein Geschenk.
Gottes neue Welt – mit dieser hoffnungsvollen Vision kann ich gelassen und dankbar leben, mich engagieren und vertrauensvoll hoffen: "Hinterm Horizont geht’s weiter!"
Der Autor
Bruder Markus Fuhrmann ist Provinzialminister der Deutschen Franziskanerprovinz. Er wurde 1971 in Hannover geboren und ist studierter Theologe. Er arbeitete bereits viel im sozialen Beriech wie der Aidshilfe, Gefängnisseelsorge, Bahnhofsmission oder Straßenambulanz. Zudem studierte er Sozialarbeit.