Zu zögerlich bei "Integrierter Gemeinde" reagiert?

BR-Recherchen belasten Benedikt XVI. und Kardinal Marx

Veröffentlicht am 07.12.2022 um 13:59 Uhr – Lesedauer: 

München ‐ Als katholischer Neuaufbruch war sie gestartet – doch dann entwickelte sich die "Integrierte Gemeinde" immer mehr Richtung Sekte. Hätten Kirchenmänner wie Benedikt XVI. und Kardinal Marx hier früher einschreiten müssen?

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Der Bayerische Rundfunk (BR) hat am Mittwoch neue Recherchen über die "Integrierte Gemeinde" veröffentlicht. Darin heißt es, kircheninterne Dokumente legten nahe, dass hochrangige Amtsträger frühzeitig über Missstände in der als ambitioniertes Reformprojekt gestarteten Gruppierung informiert waren. Sie hätten darauf aber nur zögerlich reagiert. Kritisch hinterfragen die Journalisten insbesondere die Haltung des Münchner Kardinals Reinhard Marx und von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. Ratzinger erkannte in seiner Zeit als Erzbischof in München die "Integrierte Gemeinde" 1978 offiziell als katholischen Verein an und galt lange als ihr wichtigster Fürsprecher. Marx löste sie nach einer 2019 angeordneten Untersuchung kirchenrechtlich auf.

Der BR hat dazu einen siebenteiligen Podcast und einen Dokumentarfilm produziert. Beides kann bereits in der ARD-Mediathek abgerufen werden, der Film wird am heutigen Mittwochabend vom Bayerischen Fernsehen ausgestrahlt. Der BR-Redaktion wurde nach eigenen Angaben in diesem Jahr ein mehr als 250 Seiten langer vertraulicher Bericht für die Münchner Bistumsleitung zugeleitet, in dem aus den Akten der Bistumsverwaltung zur "Integrierten Gemeinde" in Auszügen zitiert wird. Demnach sei Kardinal Joseph Ratzinger 2003 in Rom in mehreren Briefen über schwerwiegende Fehlentwicklungen in der Gruppe ins Bild gesetzt worden, unter anderem von seinem Nachfolger auf dem Münchner Bischofsstuhl, Kardinal Friedrich Wetter.

Auskunft von Gänswein

Der BR zitiert dazu eine Auskunft von Erzbischof Georg Gänswein, dem Privatsekretär des früheren Papstes: Benedikt XVI. könne sich an Wetters Brief von 2003 nicht mehr erinnern. Im Herbst 2020 hatte sich der emeritierte Papst erstmals öffentlich von der "Integrierten Gemeinde" distanziert, zu der er jahrelang ein enges Verhältnis gepflegt hatte: Er sei über manches in ihrem Innenleben "nicht informiert oder gar getäuscht" worden, was er bedaure.

Zu Marx berichtet der BR, er habe 2011 durch ein Schreiben an den Leiter des Päpstlichen Laienrats verhindert, dass die "Integrierte Gemeinde" weltkirchlich anerkannt wird. Darin habe der Kardinal darauf verwiesen, dass die Gruppe ihre eigenen Regeln nicht einhalte, etwa bei Wahlen und beim Ausschluss von Mitgliedern. Zudem seien ihre Statuten unvereinbar mit dem gesamtkirchlichen Recht.

Bild: ©picture alliance/dpa/Andreas Arnold (Archivbild)

Der Münchner Kardinal Reinhard Marx.

Ein Münchner Bistumssprecher bestätigte den Vorgang auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Die "Integrierte Gemeinde" habe danach gestrebt, ein öffentlicher kirchlicher Verein päpstlichen Rechts werden zu wollen. Dazu habe sich Marx auf Anfrage aus Rom damals "wiederholt kritisch geäußert". In dem bisher unveröffentlichten Abschlussbericht der von Marx 2019 beauftragten Visitatoren der "Integrierten Gemeinde" wird der Münchner Bistumsleitung kein gutes Zeugnis ausgestellt. Es habe zwar immer wieder Schlichtungs- und Vermittlungsversuche zwischen der Gemeinde und ihren Kritikern gegeben, eine umfassende Aufklärung und ein konsequentes Handeln aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse seien aber "bis heute unterblieben". Der Bericht trägt das Datum vom 29. Juni 2020 und liegt der KNA vor.

Nach den Erkenntnissen der Visitatoren hat die "Integrierte Gemeinde" viele ihrer Mitglieder religiös manipuliert, finanziell ausgebeutet und damit etliche in seelische wie materielle Not gebracht. Durch "unkontrollierte Machtausübung im Namen des Heiligen Geistes" sei Angst erzeugt und Kritiker seien kompromisslos ausgegrenzt worden. Das Verhältnis der Gemeindeleitung zur Kirchenleitung sei von "konfliktreichen Auseinandersetzungen" geprägt gewesen, die aber immer wieder ergebnislos verlaufen seien.

Vorschläge zum weiteren Vorgehen

Die Untersuchungsführer machen in ihrem Bericht auch Vorschläge zum weiteren Vorgehen. Der Münchner Erzbischof solle öffentlich sein Bedauern erklären "für das jahrzehntelange zögerliche Vorgehen des Erzbistums gegen die Machenschaften und Unrechtmäßigkeiten" des Vereins und das dadurch geschehene Leid der ausgeschiedenen Mitglieder. Außerdem solle er eine Aufarbeitungskommission einsetzen und daran auch ehemalige Mitglieder beteiligen. Beide Empfehlungen wurden bisher nicht umgesetzt. Zu den Gründen war keine Auskunft zu erhalten.

Ein Bistumssprecher sagte auf Anfrage, die "Integrierte Gemeinde" sei in mehreren Diözesen tätig gewesen. Daher habe das Erzbistum München und Freising darum gebeten, sich auf Ebene der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) mit dem Thema zu befassen. Ein Fachgespräch habe es dazu bereits im März 2021 gegeben. Im Erzbistum gebe es außerdem einen Ansprechpartner für ehemalige Mitglieder der Gruppe. Unabhängig davon setzten sich Fachleute im Ordinariat eingehender mit dem "komplexen Thema geistlicher Missbrauch" auseinander. (KNA)