Reisinger: Missbrauchstäter berufen sich oft auf biblische Texte
Die Theologin Doris Reisinger fordert angesichts der Rolle biblischer Texte und Bilder in der Anbahnung von sexualisierter Gewalt einen missbrauchssensiblen Umgang mit der Bibel. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Bibel und Kirche" (1/2023) stellt die Missbrauchsforscherin fest, dass im kirchlichen Kontext biblische Auslegungstraditionen eine wichtige Rolle in der Tatanbahnung spielen. Das biblische Gott-Mensch-Verhältnis sei durchzogen von Dynamiken der Überwältigung, in denen Menschen für Selbstbestimmung und das Setzen von Grenzen anscheinend nicht viel Raum bleibe. "Menschen, die christlich sozialisiert sind, kennen diese Narrative des maßlosen Gottvertrauens. Daher bauen Täter gerne auf ihnen auf", erläutert Reisinger. Täter übernähmen die Position eines Repräsentanten Gottes, "um ihre Opfer in eine Position maximaler Verletzlichkeit und Abhängigkeit zu bringen, die – ganz biblisch – mit Verheißungen verknüpft und als beglückend und befreiend dargestellt wird".
Häufiger als explizite biblische Bezüge bei der Missbrauchsanbahnung seien indirekte. Radikale Selbstlosigkeit und Selbstverleugnung könne in christlich geprägten Kontexten eine so dominante Maxime sein, dass sie von Tätern als Grundlage für eine Demütigungsstrategie genutzt werden könne. "Wer in solchen Kontexten lebt, hat verinnerlicht, dass es kein Recht auf Selbstbestimmung oder auf das Ziehen persönlicher Grenzen gibt", so Reisinger. Die Theologin verweist dabei auf Berichte über Missbrauch, in denen Täter Missbrauch als "Erweis der Liebe Christi" rechtfertigten oder junge Ordensfrauen mit dem Verweis auf die biblische Brautmetapher missbrauchten.
Verstörende Anteile nicht wegerklären
Im Umgang mit biblischen Texten dürfe man ihre verstörenden Anteile nicht wegerklären. Das könne Missbrauchstäter sogar stärken, indem sich daran die Behauptung festmachen ließe, dass die Radikalität der biblischen Botschaft von der Theologie und den Kirchen "weichgespült" werde. Täter könnten dann vorgeben, die echte biblische Botschaft zu vertreten. Ebenfalls abzulehnen sind für Reisinger Lesarten, "die sich in Plattitüden über die Selbstbezogenheit des modernen Menschen ergehen, der vor den Anforderungen der biblischen Botschaft zurückschrecke". Stattdessen erscheine es ratsam, im Umgang mit entsprechenden Texten die extreme Verletzlichkeit biblischer Figuren konsequent in Verbindung zur Größe Gottes und seines Heilsversprechens zu stellen sowie die Missbrauchbarkeit und Gefährlichkeit dieser Macht-Ohnmacht-Dynamik sachlich und offen zu thematisieren. "Wie immer und überall, wo mit Gefahrgut umgegangen wird, gilt auch im Umgang mit gefährlichen biblischen Texten: Wer sie auslegt und in pastoralen Zusammenhängen verwendet, hat dafür zu sorgen, dass möglichst niemand durch sie zu Schaden kommt", betont Reisinger.
Der Beitrag der Philosophin und Theologin, die an der Universität Frankfurt zu Spiritualität sowie zu spirituellem und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche forscht, erschien in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift zur Bibel in Forschung und Praxis "Bibel und Kirche", die sich dem Schwerpunktthema "Sexualisierte Gewalt in und mit der Bibel" widmet. Weitere Beiträge befassen sich unter anderem mit sexualisierter Gewalt gegen Männer, Kindern in neutestamentlichen Gemeinden und der Thematisierung von Missbrauch im schulischen Religionsunterricht. (fxn)