Wallfahrtsrektor: Kevelaer – mehr als Sahnetorte und Omas mit Hütchen
Bis zu einer Million Pilger machen sich jährlich auf den Weg zur Consolatrix afflictorum (Trösterin der Betrübten) im nordrhein-westfälischen Kevelaer. Von Mai bis November ist Pilgersaison am Niederrhein. Bischöfe geben sich die Klinke in die Hand, Pilger ziehen über die Felder zu Gnadenkapelle mit dem postkartengroßen Bild der Gottesmutter und streben nach dem Gottesdienst in die Gasthäuser und Cafés der 28.000-Seelen-Gemeinde. Nach der Pandemie läuft der Pilgerbetrieb wieder auf Hochtouren. Im katholisch.de-Interview spricht der Münsteraner Domkapitular und Wallfahrtsrektor, Gregor Kauling, über seine Arbeit zwischen Gnadenbild und Marienbasilika am Kapellenplatz und gibt einen Einblick in die veränderte Seelsorge einer sich wandelnden Kirche.
Frage: Herr Pfarrer Kauling, am 1. Mai wurde die diesjährige Wallfahrt in Kevelaer eröffnet. Die Basilika war bis auf den letzten Platz gefüllt. Im katholischen Deutschland sind es turbulente Zeiten. Wer kommt denn zu Ihnen nach Kevelaer?
Kauling: Zu uns kommt ein großer Mix an Menschen. Wir spüren natürlich die gesamtkirchliche Situation. In Kevelaer sind die Christen nicht anders als am Niederrhein, im Ruhrgebiet oder im Münsterland. Außerhalb der Wallfahrtssaison haben wir einen Messbesuch von 4 Prozent. Da sind wir quasi unter uns. Sonntagmorgens sitzen im Hochamt manchmal nur 80 Leute. Das muss man nüchtern sehen, auch wenn ich jetzt am 1. Mai eintausend Leute in der Basilika hatte. Zur Wallfahrt kommen die Menschen dann eben von überall her.
Frage: Und was sind das für Menschen?
Kauling: Einerseits sind wir als klassischer Marienwallfahrtsort sehr traditionsgebunden und manchmal auch -geladen. Bus- und Fußpilger spielen dabei eine große Rolle. Andererseits kommen aber auch viele Menschen zu uns, die nicht mehr kirchlich gebunden, aber auf der Suche sind und Fragen haben, die das Leben mit sich bringt.
Frage: Was sind das für Fragen?
Kauling: "Was ist der Sinn meines Lebens?" oder "Wie gehe ich mit Tragik, Schuld und Tod um?". Viele brauchen Seelsorge oder einfach Trost. Das sind aber eher kleinere Gruppen oder Einzelpersonen.
Frage: Und wie treffen Sie auf die Leute? Einfach über den Kapellenplatz laufen reicht ja wahrscheinlich nicht.
Kauling: Doch. Genau das reicht. Wir stellen uns immer wieder auf den Platz. Wenn Sie da als Priester erkennbar sind, werden sie angesprochen. Manchmal sprechen wir aber auch bewusst Menschen an. Wenn zum Beispiel jemand vor dem Gnadenbild sitzt und ein Tränchen wegdrückt. Dann kommt man ins Gespräch. Wir haben auch einen Informationsstand auf dem Platz.
Frage: Wir haben in Deutschland sehr laute progressive und konservative Stimmen – gerade was Reformfragen angeht. Wie erleben Sie diese Spannung?
Kauling: Das ist auch hier virulent. Bei uns geht es aber nicht um konservativ oder progressiv, sondern zunächst einmal um das Sein. Aber diese Fragen können natürlich nicht ausgeblendet werden. Es kommen auch Pilger, die aus der Kirche ausgetreten sind. Das raubt ihnen aber in der Tiefe nicht die Katholizität oder ihren Glauben.
Frage: Woher wissen Sie das?
Kauling: Das erleben wir in den Beichtzimmern. Zu uns kommen Menschen, die Sakramente empfangen möchten, obwohl sie ausgetreten sind. Und sie fordern die Sakramente auch sehr selbstbewusst ein. Das braucht eine behutsame Begleitung. Und dabei ist es völlig egal, welche kirchenpolitische Position jemand im Augenblick hat. Hier sollen Menschen neu zu sich und zu Gott finden.
Frage: Was ist da Ihr Rezept?
Kauling: Zuhören und da sein. Wir dürfen als Kirche nicht alles besser wissen. Unsere Aufgabe ist es, wirklich zuzuhören. Ein zweiter Schritt ist dann vielleicht, Hilfe und Orientierung zu schenken. Wir merken, dass der synodale Prozess in Deutschland die Kirche auch zerrissen hat. Bei aller Suche um neue Wege sind dabei Wunden geschlagen worden. Damit müssen wir umgehen. Es ist wichtig, einen Weg des Miteinanders zu finden. Ich glaube, dabei können Wallfahrtsorte helfen.
Frage: Ihr Motto ist "Habt Vertrauen – Ich bin es". Wie können Sie als Wallfahrtsort helfen?
Kauling: Uns war vor allem wichtig, dass wir die Verunsicherung und die Angst vieler Menschen aufgrund des Krieges in der Ukraine ansprechen. Und das gleiche gilt für die tiefe Verunsicherung in der Kirche, die durch die Missbräuche entstanden ist. Da fiel uns das Wort Jesu im Sturm ein. 'Habt Vertrauen – Ich bin es'. Der Glaube gibt Kraft, nicht unterzugehen. Krise bedeutet Unterscheidung und nicht Entscheidung. Wir sind gerade in einer Unterscheidungszeit. Es ist immer gut, Menschen dahin zu führen, in der Krise keine Entscheidungen zu treffen, sondern erst aus dem Sturm herauszukommen, anschließend auf das Problem zu schauen dann eine Entscheidung zu treffen. Ich glaube, das würde unserer Kirche auch guttun, sowohl weltweit als auch der Ortskirche. Wir müssen zur Ruhe kommen und dann eine klare Entscheidung treffen.
Frage: Der Vatikan hat eine Marienerscheinungs-Task-Force eingerichtet. Erscheinungen, Wunder und Marienverehrung wirken auf einige Menschen fragwürdig bis obskur. Wie erleben Sie das?
Kauling: Salopp gesagt: Wenn heute zur mir ein Ehepaar kommen würde, mit einem Schwarz-weiß-Bildchen und sagen würde "Wir haben die Stimme der Mutter Gottes gehört" und sie eine Kapelle bauen wollen, würde da wahrscheinlich nichts passieren. Aber 1642 hat man eben ein solches Bild aufgehängt und die Kapelle gebaut. Wäre das nicht passiert, gäbe es Kevelaer nicht. Ich finde die Task-Force gut. Es gibt gerade bei religiösen Phänomenen viele Überspanntheiten. Man muss das nüchtern anschauen und prüfen. Als Christen sollten wir dann aber auch ernstnehmen, dass es eine jenseitige Welt gibt, an die wir glauben. Wir sprechen da von Prophetie. Sonst wäre die ganze Offenbarung nicht denkbar.
Frage: Haben Sie ein Beispiel?
Kauling: Wir erleben das hier in Kevelaer. Es gibt Menschen, die zutiefst innerlich berührt werden und Heilung erfahren. Seitdem ich hier arbeite, spüre ich das intensiver und bekomme das durch Gespräche mit. Das erschüttert mich manchmal selbst. Ich muss feststellen, dass ich mir Dinge menschlich nicht erklären kann. Vor allem wenn es eine körperliche Heilung ist. Ich kann nicht ignorieren, dass so etwas stattfindet.
Frage: Spielen kritische Anfragen zu Wundern und der Marienverehrung bei Ihnen eine Rolle?
Kauling: Auf jeden Fall. Diese Anfragen sind wichtig. Ich kann Ihnen mal ein Beispiel geben, das mich sehr inspiriert und zu Veränderung geführt hat. Wir haben viermal im Jahr die Möglichkeit, den sogenannten päpstlichen Segen zu spenden. Leo XIII. hat Kevelaer dieses Privileg verliehen. Das ist ein alter Ritus, der etwas mit Versöhnung zu tun hat. Als ich 2017 nach Kevelaer kam, war der Segen immer sehr prunkvoll gestaltet. Draußen stand ein goldener Altar. Ich fand das schon ein bisschen schwierig, habe es mir aber erstmal angeschaut. Zu einer dieser Segensfeiern kam eine recht punkige junge Dame über den Kapellenplatz, sah, was da aufgebaut war und schrie "Verreckt an eurem Gold!". In dem Moment habe ich gedacht "Sie hat so recht". Was tun wir da eigentlich? Wir feiern einen Versöhnungsritus und verschanzen uns hinter Goldaltären. Jetzt steht dieser Altar im Keller. Wir versuchen, den Ritus im Kern zu halten, aber neu zu gestalten. Ein anderes Beispiel sind die Lichterprozessionen: Im Sommer fanden sie immer samstagabends statt, dann liefen manchmal acht Leute mit fünf Kerzen über den Platz. Das war kurios; also haben wir sie eingestellt. Stattdessen feiern wir jetzt fünf oder sechsmal im Jahr eine Vigilfeier in der Basilika mit ansprechender Musik und ziehen anschließend mit Kerzen durch den Ort.
Frage: Wie würden Sie den Umgang mit Traditionen in Kevelaer beschreiben?
Kauling: Wir bemühen uns um eine Spannweite, in der Lebenswelt und Glaubenswelt zusammenpassen. Einerseits braucht es Modernisierung. Andererseits gibt es Traditionen, die für die Pilger wichtig sind. Auch moderne Menschen singen nach zwölf Stunden auf der Straße "Wunderschön prächtige" und tun das gerne. Das würden die im normalen Leben vielleicht gar nicht tun. Aber da passt es einfach.
Frage: Sie haben bei der Wallfahrtseröffnung am 1. Mai ökumenische Gottesdienste und Lobpreisabende in der Basilika angekündigt. Was ist in diesem Jahr geplant?
Kauling: Am letzten Oktoberwochenende kommt die Lobpreiswerkstatt Deutschland von der Gemeinschaft Immanuel zu uns. Das zieht viele junge Leute an. Wir haben auch eine Veranstaltung, die ähnlich wie Nightfever ist. Da werden Menschen gezielt zu uns in die Basilika eingeladen. Es ist erstaunlich, wie viele da kommen. Aber auch hier gilt es, Formate anzupassen: Also Kevelaer ist – das meine ich nicht despektierlich – ein Kaff. Hier braucht man abends nicht durch die Straßen ziehen – da ist niemand unterwegs. Also laden wir die Menschen am Samstagmittag zu uns ein. Da kommen sehr viele Leute, um hier einzukaufen und zu gucken und vielleicht tatsächlich auch mal in die Kirche zu gehen.
Frage: Wenn ich das richtig verstanden habe, arbeiten Sie in der Festwoche auch mit Freikirchen zusammen.
Kauling: In der Festwoche gibt es einen ökumenischen Evensong. Wir arbeiten natürlich mit der evangelischen Kirche hier in Kleve zusammen, aber auch mit der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde. Zudem haben wir auch eine orthodoxe Kirche hier. Gerade die Ökumene hat während Corona Aufschwung bekommen. Daraus ist eine engere menschliche Brücke geworden.
Frage: Im ökumenischen Dialog ist Maria ja doch eine Reibungsfläche. Wie funktioniert das? Katholische Kirche und Freikirche zusammen in der Marienbasilika?
Kauling: Auch hier geht es wieder um Wertschätzung gegenüber anderen Ausdrucksformen. Wir sind alle in einem christlichen Haus und jeder hat seine Räume, in denen er sich besonders wohlfühlt. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht auch in die anderen Zimmer gehen kann und dort bereichert werde. Das sollte aber passieren, ohne zu erwarten, dass die Frömmigkeit geteilt wird.
Frage: Sie hatten eben die Lobpreiswerkstatt und Nightfever genannt. Welche Rolle spielen charismatische Bewegungen für die Zukunft ihres Wallfahrtsortes?
Kauling: Als Wallfahrtsort haben wir eine große Unabhängigkeit. Wir hängen an keiner Gemeinschaft. Was die Zukunft von jungen Pilgerinnen und Pilgern angeht, spielen diese Gemeinschaften aber doch eine Rolle. Ein Wallfahrtsort darf sich aber nicht zu sehr in eine Richtung bewegen, sonst grenzt er aus – auch wenn er das nicht will, tut er es vielleicht trotzdem. Ich spreche immer von einer Spannweite, die ein Wallfahrtsort leisten muss. Und da sind die Wallfahrtsorte schon auch verschieden. Kevelaer als nordwestdeutscher Wallfahrtsort ist bei aller Freude an Liturgie vielleicht trotzdem ein bisschen nüchterner als Altötting, die noch viel tiefer im bayerischen Katholizismus verwurzelt sind.
Frage: Wie sieht denn die Zukunft von Kevelaer aus?
Kauling Die Zukunft von Kevelaer ist offen. Ich mache mir aber keine Sorgen, weil ich glaube, dass Wallfahrtsorte nicht gemacht, sondern von Gott geschenkt sind. Solange Gott das möchte, werden diese Orte auch existent sein. Kevelaer hat Zukunft, weil das Pilgern im Menschen verankert ist, als Suchbewegung des Lebens. Kevelaer ist mehr als Rosenkranzbildchen, Sahnetorte und Omas mit Hütchen.