Noch bis Ende Mai können Versicherte abstimmen

Große Unbekannte – warum sich Christen bei der Sozialwahl engagieren

Veröffentlicht am 18.05.2023 um 12:15 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 6 MINUTEN

Aalen ‐ Kranken- und Rentenkassen werden nicht vom Staat verwaltet – sondern von den Versicherten selbst. Alle sechs Jahre werden die Verwaltungsgremien neu zusammengesetzt. Der Wahltermin für die Sozialwahl 2023 rückt näher – auf dem Zettel stehen auch christliche Arbeitnehmerverbände.

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Die drittgrößte Wahl in Deutschland ist auf der Zielgeraden: Noch bis Ende Mai können Versicherte bei den Krankenkassen und der Deutschen Rentenversicherung ihre Stimme für die Selbstverwaltung der Versicherungen wählen. In diesem Jahr gibt es eine große Kampagne für die im sechsjährigen Turnus stattfindende Wahl: Plakate fordern die 52 Millionen Wahlberechtigten auf, ihre Stimme abzugeben. Schon 16-Jährige dürfen abstimmen, wenn sie in die Versicherungen einzahlen. Was genau gewählt wird, warum es sich lohnt, für die Zusammensetzung weitgehend unbekannter Gremien abzustimmen und was diese eigentlich tun, ist dabei aber längst nicht so klar wie bei der Bundestagswahl oder der Europawahl – den einzigen Wahlen, bei denen in Deutschland mehr Menschen teilnehmen dürfen als bei der Sozialwahl.

Dabei hat die Selbstverwaltung von Sozialversicherungen eine lange Geschichte: In der heutigen Form finden Sozialwahlen seit 1953 statt. Doch schon im 19. Jahrhundert bildeten sich Knappschaftsvereine, Vorläufer der Sozialversicherungen, in denen Arbeitgeber und Knappschaftsälteste je zur Hälfte die Vorstände wählten. Als 1881 im Kaiserreich die Sozialversicherung eingeführt wurde, sollte nicht alles vom Staat geregelt werden. Stattdessen setzte man auf "korporative Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung", ein System, das in der Weimarer Republik fortgeführt und erst unter der nationalsozialistischen Herrschaft abgeschafft wurde. Das Prinzip, Menschen bei der Selbstverwaltung zu beteiligen, entspricht dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre: Der Staat soll nicht alles machen, sondern muss Strukturen fördern, die eine größtmögliche Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sicherstellen und Entscheidungen da ansiedeln, wo sie am besten getroffen werden.

Wahlbündnis christlicher Arbeitnehmerorganisationen

Dass trotz der langen Geschichte die Selbstverwaltung in der Öffentlichkeit eher ein Schattendasein fristet, liegt auch daran, dass auf den Stimmzetteln nicht die in den Parlamenten vertretenen Parteien stehen. Stattdessen stehen Vorschlagslisten zur Wahl, auf denen Vertreter von Gewerkschaften, Verbänden und Versichertenorganisationen kandidieren. Bei den meisten Versicherungen tritt auch eine christliche Liste an: Die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB), das Kolpingwerk und der Bundesverband Evangelischer Arbeitnehmerorganisationen treten unter diesem Namen oder als Arbeitsgemeinschaft Christlicher Arbeitnehmer-Organisationen (ACA) bei den meisten Versicherungsträgern an.

Eine der ACA-Kandidatinnen ist Maria Sinz. Schon in der vergangenen Wahlperiode war sie Mitglied im Verwaltungsrat der AOK Baden-Württemberg. Sie ist Vorsitzende des baden-württembergischen ACA-Landesverbands und arbeitet im Hauptberuf als KAB-Sekretärin für Gesundheits- und Pflegepolitik. "In der ACA verbindet uns das Eintreten für das Gemeinwohl. Wir befassen uns mit sozialpolitischen Themen aus der Arbeitnehmersicht", erläutert sie, was ihre Wahlliste ausmacht. Vieles von dem, was Krankenkassen und die Rentenversicherung tun, wird in Gesetzen festgelegt. Der Spielraum der gewählten Vertreterinnen und Vertreter in der Selbstverwaltung ist daher nicht beliebig groß: Sie beschließen im Rahmen des Sozialrechts über die Haushalte der Versicherungen, wählen ihre Vorstände und beraten über den grundsätzlichen Kurs. Vor allem bei Bonusprogrammen und Wahltarifen haben sie größere Spielräume. "Wir wenden uns klar gegen die Privatisierung der Daseinsfürsorge. Und wir haben die Rente für Geringverdiener im Blick", sagt Sinz – Themen, für die sich die christlichen Arbeitnehmerverbände vor allem allgemeinpolitisch einsetzen. Forderungen aus dem Wahlprogramm wie die Einbeziehung aller Bürger in die Kranken- und Pflegeversicherung und bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege können in den bei der Sozialwahl gewählten Verwaltungsgremien nicht umgesetzt werden.

Porträtfoto von Maria Sinz
Bild: ©KAB Rottenburg-Stuttgart (Archiv)

Maria Sinz ist Vorsitzende der ACA Baden-Württemberg und Mitglied im Verwaltungsrat der AOK Baden-Württemberg. Sie ist KAB-Sekretärin für Gesundheits- und Pflegepolitik in Rottenburg-Stuttgart.

Der geringe Spielraum in den Gremien führt dazu, dass die großen politischen Debatten im Sozialrecht in den Parlamenten geführt werden, nicht in den Verwaltungsräten der Versicherungen. Entsprechend wenig eignen sich die Beratungen dort auch für große Kontroversen. "In den Verwaltungsräten ist der Ton höflich und konstruktiv, da herrscht kein großes Gegeneinander. Es gibt unterschiedliche Meinungen, aber es wird sehr sachlich diskutiert", berichtet Sinz von ihrer Arbeit im AOK-Verwaltungsrat.

Ehrenamtliche setzen sich für andere Versicherte ein

Wichtiger als die große Politik ist der Einsatz, den die gewählten Vertreter für einzelne Versicherte ermöglichen. Sowohl bei den Krankenkassen wie bei der Rentenversicherung wählen die Sozialparlamente Mitglieder von Widerspruchsausschüssen. An sie können sich Versicherte wenden, wenn sie mit einer Entscheidung ihrer Versicherung nicht zufrieden sind, etwa wenn eine beantragte Leistung nicht bewilligt wird. Oft entstehen über die regelmäßige Spruchpraxis dieser Widerspruchsausschüsse neue Standards, nach denen Leistungen bewilligt werden.

Dazu kommt das Recht, ehrenamtliche Versicherungsberater zu benennen. Das dürfen nur die in den Vertreterversammlungen vertretenen Organisationen. Der Sitz im Sozialparlament eröffnet den Mitgliedern der christlichen Sozialverbände damit die Möglichkeit eines besonderen ehrenamtlichen Engagements: Tausende von Menschen beraten bundesweit andere Versicherte und helfen ihnen, Leistungen zu bekommen, die ihnen zustehen. Die Verbände der ACA stellen allein schon hunderte solcher Berater. "Das ist ein Ehrenamt, das für ganz konkrete Hilfe am Nächsten steht", erläutert Sinz. Versichertenberatung gehe auch oft in eine Art Sozialberatung über, teilweise gebe es sogar aufsuchende Beratung mit Hausbesuchen. "Die Versicherten, die sich so beraten lassen, sind sehr dankbar, dass es das gibt", betont die KAB-Sekretärin. Deshalb sei es auch viel einfacher, Interessenten dafür zu finden, als Kandidaten für die Verwaltungsgremien.

Die meisten Wahlen sind "Friedenswahlen"

Fast überall stehen ACA-Listen zur Wahl, nur bei der Techniker-Krankenkasse ist es dieses Mal nicht gelungen, eine eigene Liste aufzustellen. Dort machen Gewerkschaften und unabhängige Versichertengemeinschaften die Wahl nun unter sich aus. Abgesehen davon ist Sinz aber zufrieden mit der Kandidatenlage. Erstmals müssen in diesem Jahr mindestens 40 Prozent Frauen und mindestens 40 Prozent Männer auf den Listen stehen. Das hat die ACA in der Regel schon vorher geschafft, auch ohne gesetzliche Verpflichtung. "Wir merken aber auch, dass die Zahlen zurückgehen. Früher konnten wir oft noch viel mehr Kandidatinnen und Kandidaten benennen und hatten viele Stellvertreter, heute sind wir schon froh, fast alle Plätze besetzen zu können, gerade in der Fläche", räumt die Kandidatin ein.

Maria Sinz steht für den Verwaltungsrat der AOK Baden-Württemberg zur Wahl – doch tatsächlich wählen kann sie niemand, auch sie selbst nicht. Das liegt an einer Besonderheit bei Sozialwahlen: Trotz der großangelegten Wahlkampagne finden viele der Wahlen nicht als Urnenwahl statt, wie man es von anderen Wahlen gewohnt ist. Nur die Versicherten bei der Deutschen Rentenversicherung Bund und bei den Krankenkassen TK, Barmer, DAK, KKH und hkk können wirklich wählen. Bei den anderen Versicherungen findet eine "Friedenswahl" statt. Dort sind nur so viele Wahlvorschläge eingegangen, wie Sitze zu verteilen sind – wer antritt, ist damit automatisch gewählt. Für Sinz ist das kein grundsätzliches Problem: "Auch bei einer Friedenswahl sind die Vertreterinnen und Vertreter demokratisch legitimiert, nämlich von ihren Verbänden." Sie räumt aber ein, dass Wahlen ohne Wahlhandlung schwer verständlich zu machen sind. Für eine Änderung ist sie offen: "Echte Wahlen würden auch das Bewusstsein für die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen stärken." Durch die Verbreitung von Friedenswahlen ist der Wahlkampf bisher sehr überschaubar. Wenn es flächendeckend Wahlen mit Wahlhandlung geben würde, dann wäre das ein großer Aufwand – auch finanziell. "Da müsste man drüber reden", sagt Sinz – und zwar möglichst bald, damit die Sozialwahlen 2029 nicht wie sonst erst kurz zuvor in den Blick der Öffentlichkeit kommen, wenn alle organisatorischen Weichen schon gestellt sind.

Von Felix Neumann