Suizidbeihilfe: Gibt es einen richtigen Zeitpunkt zum Sterben?
Eigentlich will sie nicht mehr warten. "Der Tod ist gar nicht schlimm. Ich glaube, mir wird's drüben gut gehen", sagt Viola M. Sie will zu Andrei, ihrem Lebensgefährten, der im November unerwartet starb. Und zu ihrer großen Schwester, die Krebs hatte und schon ein paar Jahre tot ist. Aber dann ist da immer wieder das Vogelgezwitscher, das von der Terrasse hereindringt. Da sind die Bäume vor dem Fenster, durch die der Wind fährt, sie rauschen. Viola genießt es, dass sie jederzeit in ihrem Bett nach draußen gefahren werden kann. "Ich liebe alles Grüne", sagt die 50-Jährige. In ihrem Zimmer steht ein großer Strauß Lilien.
Schmal wie ein Kind liegt sie auf dem Rücken, die dunkelblonden Haare ausgebreitet auf dem Kissen, die Arme waagerecht von sich gestreckt. Sie sind beschwert von Kirschkernkissen, um schmerzhafte Spastiken zu verhindern. Viola hat Multiple Sklerose. Die Krankheit ist weit fortgeschritten, sie hat Muskellähmungen. Seit Jahren kann sie nicht mehr laufen, seit vielen Monaten fällt ihr auch das Sprechen sehr schwer. Sie benötigt intensive Pflege rund um die Uhr.
"Wenn ich mir was wünschen dürfte, möchte ich etwas glücklich sein": Diese Zeilen von Marlene Dietrich haucht sie so leise, dass sie Freundin Doreen, die sie intensiv betreut und sehr gut kennt, noch einmal laut wiederholen muss. "Man hat uns nicht gefragt, als wir noch kein Gesicht / Ob wir leben wollen oder lieber nicht", so lautet eine weitere Zeile aus dem Lied.
"Es gab eine Zeit, da habe ich nur schwarz getragen"
Tod oder Leben? Leben um jeden Preis? Gibt es einen würdigen, gar einen schönen Tod? Zählt jeder Augenblick? Ist Leben immer lebenswert? Der Bundestag will heute über eine gesetzliche Regelung zur Suizidbeihilfe entscheiden. Es liegen zwei Gesetzentwürfe vor. Ein liberaler ist stärker darauf angelegt, Suizid unter bestimmten Bedingungen zu ermöglichen. Der andere stellt den Schutz vor Missbrauch in den Vordergrund – es soll vor allem ausgeschlossen werden, dass Menschen sich zur Selbsttötung gedrängt fühlen.
Viola kam kurz nach ihrem 50. Geburtstag Anfang Mai ins Hospiz der Caritas in Berlin-Pankow, um "Sterbefasten" zu machen: So wird der medizinisch begleitete Freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) umgangssprachlich genannt. Den Gedanken an diese bewusste schnellere Herbeiführung des Todes hat sie nach wie vor im Kopf – aber genau festlegen möchte sie den Fasten-Beginn erstmal nicht.
"Es gab eine Zeit, da habe ich nur schwarz getragen. Jetzt bin ich ganz bunt", sagt Viola. Ihre Fingernägel sind rot, blau und lila lackiert, ihr schwarzes T-Shirt hat eine knallbunte Aufschrift. Vor ein paar Tagen erst hat sie sich auf ihren linken Arm einen Schmetterling, eine Libelle und eine Hummel tätowieren lassen, die einen knospenden Ast umschwirren. Sie hat weitere Pläne: Als nächstes ist ein Esel-Tattoo dran. Er ist ihr Lieblingstier.
"Wir werden sie in keinem Fall zu etwas drängen. Frau M. hat hier neuen Lebensmut geschöpft", sagt Anne Müller, die Pflegedienstleiterin des Hospizes. Seit zwölf Jahren arbeitet die gelernte Krankenschwester und Pflegemanagerin in der Einrichtung. "Sein Leben beendet man nicht einfach so. Die Hoffnung stirbt wirklich zuletzt", sagt die 42-Jährige. Dennoch sei Sterbehilfe bei ihren "Gästen" regelmäßig ein Thema. "Aber ernst gemeint ist es, so ist meine Erfahrung, in den seltensten Fällen. In der Regel ist so eine Aussage ein Hilfeschrei und keine Aufforderung."
260 stationäre Hospize gibt es bundesweit. Die Idee des Hospizes ist es, unheilbar Kranke und Sterbende bis zum letzten Tag zu begleiten, Lebensqualität zu ermöglichen, den Sterbenden nicht alleine zulassen – und den natürlichen Lebens- und Sterbeverlauf zu akzeptieren.
Suizidbeihilfe – die Bereitstellung von tödlichen Medikamenten – findet hier nicht statt. Das heißt nicht, dass Sterbehilfe hier ein Tabuthema wäre. Müller ist der offene Umgang wichtig. Die Menschen dürfen aussprechen, was sie bewegt. "Da darf jeder seine Meinung zu haben. Hier muss sich keiner verstecken, weil er Angst hat, wegen seines Wunsches diskriminiert zu werden."
"Jeder, der sein Leben gelebt hat, müsste so versorgt werden"
Drei Wochen sind die Kranken im Durchschnitt im Hospiz, bis sie sterben, so Müller. Manchem, dessen Ende laut ärztlicher Diagnose kurz bevor steht, gehe es hier plötzlich besser, erzählt sie: Man werde gut gepflegt, bekocht, die Symptome ließen nach, die Todesangst werde weniger. Müller berichtet von neuen Freundschaften, die auf den letzten Metern geschlossen werden, von Geburtstagspartys, von leidenschaftlichen Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spieleabenden.
"Für mich ist das eigentliche Problem, dass die Pflege, wie wir sie hier machen, für alle älteren und sterbenden Menschen gang und gäbe sein müsste. Jeder, der sein Leben gelebt hat, müsste so versorgt werden", sagt Müller mit Nachdruck. 14 Menschen – jeweils im eigenen Zimmer – beherbergt die Einrichtung im Osten Berlins. Mehr sind nicht erlaubt, um die Qualität aufrecht zu erhalten. Jeder Betreuer ist hier für etwa fünf Personen zuständig. In regulären Pflegeeinrichtungen sind es dagegen 20.
Rosemarie Lowack, 83 Jahre alt, lebt seit 17 Jahren in einer Berliner Senioreneinrichtung der Diakonie, ist täglich auf Hilfe angewiesen. Ihre kleine Wohnung ist liebevoll eingerichtet, Spitzendeckchen auf dem runden Tisch, kleine Engelsfiguren an der Wand. Sie ist seit acht Jahren querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl – die Langzeitfolge eines Unfalls, den sie als Kind hatte.
Die ehemalige evangelische Religionslehrerin hat sich intensiv mit dem Thema Sterbehilfe auseinandergesetzt. Bereits vor 40 Jahren wurde sie Mitglied der Gesellschaft für humanes Sterben, die seit Jahrzehnten in Deutschland Sterbehilfe propagiert. 60 Euro kostet die jährliche Mitgliedschaft. Dafür wird man etwa juristisch beraten und es wird eine "Freitodbegleitung" vermittelt.
So weit ist es bei Lowack noch nicht. Sie hat bisher keinen Antrag gestellt, liebt nach wie vor das Leben. Sie will aber sichergehen, einen "Notausgang" haben. "Ich möchte würdevoll abtreten und nicht wie ein Häuflein Elend. Es beruhigt mich, zu wissen, dass ich nichts durchziehen muss, was mich abstößt."
Der Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben sei auch deshalb gewachsen, weil sie immer mit Schmerzen gelebt habe. Hinzu kommt die Erinnerung an den Tod ihrer Mutter. Sie lag anderthalb Jahre im Koma. "Sie war eine so schöne, lebendige Frau. Und dann verschwand sie, wurde immer weniger. Sie verging geradezu. Das fand ich schrecklich. Ich will meinen Kindern das nicht antun", erklärt die alte Dame. "Wem nützt es denn, wenn ich das durchstehe? Wem nütze ich überhaupt noch, wenn ich so krank bin?" Sie sei ein aktiver Typ, der "immer gemacht hat".
Ihre Töchter wollen "diesen letzten Schritt" mitmachen
Und dass der Tod dann geplant im Kalender steht? Dass man eines Morgens aufwacht und weiß, dass man den Abend nicht mehr erleben wird? Besonders für ihre jüngere Tochter war das zunächst ein schwieriger Gedanke, an den sie sich gewöhnen musste, gibt Lowack zu. Beide Töchter hätten ihr aber zugesichert, dass sie "diesen letzten Schritt" mitmachen, dass sie bei ihr sein werden, wenn es soweit ist.
Es gibt Schweizer Studien, nach denen Angehörige mehr posttraumatische Belastungsstörungen haben, wenn ein geliebter Mensch Suizidbeihilfe in Anspruch genommen hat. Das könnte aber auch daran liegen, dass sie sich nicht trauen, über die Todesursache zu sprechen – und das Erlebnis entsprechend weniger gut verarbeiten können.
Sterbebegleiterin Anne Müller denkt, dass der Abschied leichter fällt, wenn der Tod von selbst kommt. "Ich würde sagen: ja. Es ist eher ein Abschied auf Raten, man gewöhnt sich langsam daran, dass der andere bald nicht mehr da sein wird. Beim assistierten Suizid kommt für die Angehörigen viel nach – auch wenn es im ersten Moment vielleicht eine Erleichterung ist."