Frère Alois und Taizé: Einfachheit als Prinzip, Missbrauch im Genick
Der 16. August 2005 war für Frere Alois kein Tag der Beförderung. Als ihn beim Weltjugendtag mit dem neuen Papst Benedikt XVI. in Köln die Nachricht vom gewaltsamen Tod des 90-jährigen Ordensgründers Frère Roger erreichte, war klar: Von nun an musste er, der schwäbische Katholik Alois Löser, als Prior die berühmte ökumenische Gemeinschaft von Taizé leiten. Er tat es mit Visionen und Ideen, mit immer freundlicher Hingabe und Demut – bis 2019 auch in Taizé der allgegenwärtige Kirchendämon zuschlug: Missbrauchstaten mehrerer seiner Mitbrüder. Nun, nach 18 Jahren, will er den Stab abgeben.
Seit 1973, seit seinem 19. Lebensjahr, lebt der in Ehingen am Ries bei Nördlingen geborene Frère Alois auf dem Hügel von Burgund. Als Besucher ließ er sich für die Idee von Taizé begeistern und erlebte das Vorbereitungsjahr auf das sogenannte Konzil der Jugend mit, das im August 1974 in Taize begann. Im Frühjahr 1974 verbrachte er drei Wochen im kommunistischen Prag. Dort habe er gespürt, sagte er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), "welche Möglichkeiten die Kirche hat, Grenzen zu überschreiten – und wie sehr von Taizé eine Dynamik für Versöhnung und für diese Grenzüberschreitung ausgeht".
"Ein Ort, an dem einem zugehört wird"
Die Eröffnung des "Konzils der Jugend" war ein großes Fest. Frère Alois: "Es herrschte echte Aufbruchstimmung; eine Hoffnung, dass sich in Kirche und Gesellschaft vieles verändert: mehr Gerechtigkeit, ein stärkeres christliches Engagement." Die frühen 70er Jahre waren eine wilde Zeit – Stichwort Studentenrevolte. Was hat die Jugend damals angezogen an diesem "Konzil" von Taizé? Frère Alois: "Man hat gespürt, dass hier ein Ort ist, an dem einem zugehört wird, an dem man so sein kann, wie man ist, ohne dass gleich Forderungen gestellt werden."
Zur Eröffnung des "Konzils" kamen 40.000 Jugendliche für drei Tage. Es regnete und regnete. Für die gemeinsamen Gebete waren große Zelte aufgebaut. Taizé-Gründer Frère Roger selbst wertete das Konzil später als gescheitert, änderte die Richtung. Es dürfe nicht alles auf Taize zentriert sein. Die Jugendlichen sollten konkret in die (heimische) Kirche hineinwirken.
Mit den Worten von Frère Alois: "Wir wollten in Taize und um Taizé herum keine organisierte Jugendbewegung aufbauen. Unser Aufruf ist bis heute: "Geht in eure Kirchengemeinden; dort ist der Ort der Kirche. Der Glaube kann nur in Gemeinschaft gelebt werden, und das muss in eurer Ortskirche stattfinden!" Taizé sei "ein Ort des Durchgangs, ein Ort für Pilger".
Für ihn selbst galt das allerdings nicht: Taizé blieb sein Leben. Im November 1974 trat er als Frère Alois in die Communauté ein. In Lyon studierte er Theologie, ist aber kein Priester. Wer mit ihm spricht, erlebt eine warmherzige und sehr integrative Persönlichkeit. Bei seinen jüngeren Mitbrüdern trug er den Spitznamen "Erzengel". Schon 1997 benannte ihn Frère Roger zu seinem designierten Nachfolger.
Mehr und mehr übernahm Frère Alois fortan die organisatorische Leitung der Gemeinschaft, war Koordinator der europäischen Taize-Treffen. In Mittel- und Osteuropa ließ er Anlaufstationen für Menschen in Not einrichten. Zuhause in Taizé organisierte er unter anderem die großen Jugendtreffen, komponierte aber auch einige der so typischen geistlichen Gesänge.
Neue Arbeitsfelder
Ein Erfolgsgeheimnis der Taizé-Gemeinschaft sieht der Gastgeber und Integrator in ihrer Einfachheit – und im gemeinsamen Gebet. Mit und unter Frére Alois hat sich Taize konsequent neue Arbeitsfelder erschlossen: Migration und Solidarität, die Angst vor dem Unbekannten. Zudem ist die Gemeinschaft noch internationaler aktiv: in Afrika, China, auf Kuba.
Ein Schock – für viele Taize-Anhänger von heute und gestern – war die Mitteilung im Sommer 2019, dass auch die so charismatische Ordensgemeinschaft in Burgund mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert war. Die Taten sollen vor allem zwischen den 50er und 80er Jahren geschehen sein; drei der fünf beschuldigten Ordensbrüder waren bereits tot, einer noch Teil der Gemeinschaft, der fünfte bereits länger ausgeschieden.
Und auch die jüngere Gegenwart hielt noch neue mutmaßliche Taten bis in die Amtszeit von Prior Alois bereit, die die Opfer wie die Gemeinschaft belasten. Zermürbend für einen, der mit Idealismus und dem ohnehin schweren Rucksack angetreten war, ein großes spirituelles Erbe in die Zukunft zu tragen. Wenn er nun zum Ersten Advent ins Glied der Bruderschaft zurücktritt, wird er mit Sicherheit auch an jene gedankenvolle Nachtfahrt 2005 zurückdenken, die ihn vom Weltjugendtag in Köln in die volle Verantwortung in Taize trug.
26.07., 12.45 Uhr: Präzisierung/Korrektur im ersten und letzten Absatz. Nicht die Missbrauchsvorwürfe, sondern die Missbrauchstaten sind der "Kirchendämon".