Ikonen-Parodie wird zur Schutzheiligen der ukrainischen Soldaten
In den sozialen Medien kursiert derzeit ein ungewöhnliches Heiligenbild, welches die Gottesmutter mit einem Heiligenschein in den ukrainischen Nationalfarben blau und gelb zeigt, anstelle des Heilands die US-amerikanische Panzerabwehrwaffe Javelin in Händen haltend. Die Darstellung hat für Kritik seitens der Kirche gesorgt, erfreut sich aber international unter Unterstützern der ukrainischen Streitkräfte großer Beliebtheit. Die Ikone, "Heilige Javelin" (engl. Saint Javelin) genannt, ist zur Schutzpatronin der ukrainischen Siegeshoffnung avanciert. Der Urheber des Heiligenbilds, der US-Amerikaner Chris Shaw (*1967), ist eigentlich durch seine Wandgemälde in kalifornischen Clubs bekannt geworden. Mit nackten Zombie-Frauen, Monstern mit Reißzähnen und tanzenden Skeletten hat er sich auf den dicken Bunkerwänden der Party-Szene in Los Angeles verewigt. Über die Clubs kam er mit Musikern in Kontakt und machte sich als Bühnenbilder und Plakatkünstler für Bands wie Kiss, Pearl Jam oder die Foo Fighters einen Namen. Mit zunehmendem Alter widmete sich Shaw in den vergangenen Jahren vor allem der Malerei in seinem Studio in San Francisco. Hier entstanden zahlreiche Bilder, die durchaus auch satirisch mit christlichen Motiven spielen: Ein betender, giftgrüner Elvis Presley oder ein eucharistisch anmutendes Martini-Glas inklusive Zitrone. Mediale Aufmerksamkeit erzielte der Künstler besonders mit seiner Marienserie. Er kontrastierte die Gottesmutter in Banksy-Manier mit scheinbar unpassenden Objekten wie einem Mikroskop, einer Bierflasche oder - und hier beginnt die Genese der "Heiligen Javelin" - einer Kalaschnikow.
Die kalkulierte Provokation glückte und 2013, ein Jahr nach der Fertigstellung des Werks, wurde die "Madonna der Kalaschnikow" im Museum für moderne Kunst in San Francisco präsentiert. Die Ausstellung rief die internationale Presse auf den Plan und das Werk verbreitete sich auch in den sozialen Netzwerken.
Mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und dem russischen Inversionskrieg im Donbass ab April 2014 wurde das Motiv zum Symbol für den nationalen Widerstand gegen die russischen Aggressoren. Bald begannen Soldaten der ukrainischen Armee, sich die "Madonna der Kalaschnikow" mit dem Schrift-Zusatz "Jungfrau Maria" (ukr. ДІВА МАРІЯ) als Aufnäher an ihre Uniformen zu heften. Auch in der Zivilbevölkerung wurde das Motiv zu einem Zeichen der Solidarität mit den nationalen Streitkräften.

Sticker der "Heiligen Javelin" in einem Schutzraum in der Ukraine.
In militärnahen ukrainischen Chatgruppen tauchte das Marienbild 2018 statt in Blau im Dunkelgrün der Armeekleidung auf. Anstelle der russischen Kalaschnikow hielt Maria nun den US-amerikanischen Raketenwerfer des Typs Javelin in Händen. Damals erwarb die ukrainische Armee erstmals die amerikanischen Raketenwerfer, welche bereits in Afghanistan und im Irak zum Einsatz gekommen waren. Nach dem Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 stellte die US-Armee der Ukraine schließlich zwei Drittel ihres Arsenals an Javelin-Systemen zur Verfügung. So wurde die Waffe früh zum Sinnbild für die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte.
Die Bedeutung der Javelin für die ukrainische Verteidigung und die Moral des Landes erkannte auch der Journalist Christian Borys. Von 2014 bis 2019 hatte der Kanadier mit ukrainischen und polnischen Wurzeln aus Kiew für internationale Medien wie die BBC, die Washington Post und Al Jazeera berichtet. Als Kriegsreporter kannte er das Motiv der Madonna mit Raketenwerfer, taufte sie auf den Namen "Heilige Javelin" und startete eine Spendenkampagne durch den Verkauf von Aufklebern mit ebendiesem Motiv. Es entwickelte sich ein profitables Start-up. In wenigen Wochen stieg der Umsatz so stark, dass seine Bank ihm wegen des Verdachts auf Geldwäsche mehrfach die Konten sperrte. Heute verkauft Borys über seinen Online-Shop in die ganze Welt. Mit seinen 15 Mitarbeitern sowie einem Team für die Produktion in der Ukraine hat er bereits knapp zwei Millionen Euro Gewinn erwirtschaftet und für humanitäre Zwecke in der Ukraine gespendet. Seine Produktpalette umfasst neben Aufklebern und Aufnähern mittlerweile auch Kleidung. Persönlichkeiten wie der Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew, Witaly Klitschko, oder der Verteidigungsminister Olexi Resnikow posieren mit Borys Javelin-T-Shirts und Beiträge zur "Heiligen Javelin, Beschützerin der Ukraine", erobern die sozialen Netzwerke. Einige Landsleute haben sogar ihre Kinder nach dem Waffensystem "Javelin" oder "Javelina" benannt.

Der Kirche ist diese Ikone nicht geheuer: Javelin mit entferntem Heiligenschein in Kiew.
Als Borys im Mai 2022 ein großformatiges Wandbild der "Heiligen Javelin" auf einer Hochhauswand im Osten Kiews in Auftrag geben ließ, regte sich allerdings Widerstand unter den Kirchenoberen des Landes. Der Allukrainische Rat der Kirchen und religiösen Organisationen (UCCRO) beschwerte sich in einem offenen Brief an Präsident Wolodymyr Selenskyj und Bürgermeister Klitschko über die Darstellung als Pseudokunst und forderte den gesetzlich verankerten Respekt vor religiösen Überzeugungen ein. Die vehemente Ablehnung der Kirchen erklärt sich auch daraus, dass die "Heilige Javelin", obgleich in neuem tarngrünem Gewand und mit dem Namen der von ihr gehaltenen Waffe versehen, in der öffentlichen Debatte weiterhin mit der Gottesmutter Maria identifiziert wird. Der Heiligenschein der Javelin wurde schließlich von der Stadt entfernt, sodass die auf der Hauswand dargestellte Frau auch als profane Personifizierung der Ukraine interpretiert werden kann.
Christian Borys hält die Aufregung für übertrieben. Er bezeichnet seine Darstellung als ein Meme, das den Humor in den sozialen Medien widerspiegele. Humor sei ein wichtiger Pfeiler für die Moral in Armee und Bevölkerung. Außerdem sei die Darstellung von Waffen in der Ikonografie nicht neu. Er verweist auf den Erzengel Gabriel, der häufig mit einem Schwert dargestellt wird.
Ob heilig oder nicht. "Javelin" ist für die Ukrainer zu einem zentralen Symbol des nationalen Widerstands geworden. Spannend bleibt, ob sich die Darstellung im Laufe des Krieges noch weiterentwickeln wird.