Warum treten sie aus?
"In der Regel werden Schlagzeilen wie die um den Limburger Bischofssitz oder den Missbrauchsskandal dafür verantwortlich gemacht, dass die Zahl der Kirchenaustritte steigt. Sicherlich ist das ein Teilaspekt. "Aber ich bin der festen Überzeugung, dass das längst nicht alles erklärt", sagt Bischof Genn bei der Präsentation der Studie. Die neue Umfrage unter 1.000 Katholiken scheint ihm Recht zu geben. Auf die Frage nach den Hauptgründen für einen möglichen Kirchenaustritt werden erst an vierter und fünfter Stelle mit je 25 Prozent der Ärger über die Institution Kirche oder einen ihrer Vertreter genannt. Davor rangiert mit großem Abstand auf Platz 1 die Rückständigkeit der Kirche (55 Prozent), gefolgt von der Kirchensteuer (40 Prozent). Laut Studie sind insgesamt rund 21 Prozent austrittsgefährdet.
Doch sind Kirchenaustritte auch nur die "ultima ratio". Im Umkehrschluss heißt das nicht, dass derjenige, der nicht aus der Kirche ausgetreten ist, mit "seiner" Kirche zufrieden ist. Ganz im Gegenteil. Laut Studie befindet sich die Zufriedenheit mit der "Institution katholische Kirche" in einem kritischen Zustand. Das bezeugt ein Mittelwert von 3,0 auf einer Skala von 1 (zufrieden) bis 5 (unzufrieden). Etwas besser, aber auch nicht gut, ist die Zufriedenheit der Katholiken mit der Pfarrgemeinde (2,6). Auffallend ist, dass selbst in kritischen Situationen 17 Prozent der Gläubigen in ihrer Pfarrgemeinde keinen Halt finden.
"Ein sehr schlechter und kritischer Wert", betont Tim Eberhardt, Geschäftsführer des Münster Research Institute. Gemeinsam mit Heribert Meffert vom Marketing Centrum Münster und Peter Kenning, Marketing-Experte an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, war er mit der Studie beauftragt worden. Die Professoren warnen vor einem einfachen "Weiter so!" und raten dazu, die Bedürfnisse und Wahrnehmungen der "Kunden" sehr viel stärker in den Blick zu nehmen. Gerade in kritischen Situationen werde von der Kirche erwartet, dass sie für die Gläubigen da ist. "Hier gibt es ein deutliches und auch machbares Verbesserungspotenzial", so Meffert und Kenning.
Alle kirchlichen Angebote nur durchschnittlich bewertet
Nahezu keine Unterschiede gibt es, wenn die Katholiken die unterschiedlichen kirchlichen Angebote bewerten. Ob Gottesdienste und Seelsorge oder Erziehungs- und Bildungsangeboten, ob das gemeinschaftlichen Miteinander oder die sozialen und caritativen Angebote: Die Zufriedenheitswerte liegen in einem "allenfalls durchschnittlichen" Bereich (2,7). Hier brauche es "eine strategische Weiterentwicklung des kirchlichen Dienstleitungsangebots", sind Meffert und Kenning überzeugt. Besonders unzufrieden mit der Kirche sind laut Studie übrigens die Katholiken unter 25 Jahren und – überraschenderweise – auch die zwischen 56 und 65 Jahren.
Auch wenn die Erkenntnis banal sei, so Meffert und Kenning, hätte die Zufriedenheit der Katholiken mit Kirche und Pfarrgemeinde "eine hohe Relevanz im Blick auf die Austrittswahrscheinlichkeit". Um die zu steigern, schlagen sie "das Konzept der drei I" vor: Integrität, Interaktion und Integration. Integrität meine Rechtschaffenheit, Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit und sei "der Schlüssel für Glaubwürdigkeit und für Vertrauensbildung und damit auch für die Zufriedenheit", so die Professoren. Interaktion heiße, in einen intensiven und offenen Austausch und Dialog mit den Gläubigen zu treten. Und Integration bedeute, die Kräfte zu bündeln – sowohl auf einer organisatorisch-strukturellen Ebene als auch zwischen Vertretern der Kirche und den Gläubigen. Als Beispiel nannten sie die Caritas der die 36 Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen, die sich zwar in Trägerschaft des Bistums befänden, offensichtlich aber kaum als Teil der katholischen Kirche wahrgenommen würden.
„Wir wollen eine einladende und keine ausschließende und selbstbezogene Kirche sein. Wir wollen eine Kirche sein, die die Charismen und Begabungen aller Gläubigen aufsucht und fördert.“
"Insgesamt zeigen die Untersuchungen: Die Lage für die katholische Kirche im Bistum Münster ist ernst. Sie ist aber keineswegs hoffnungslos", bringen Meffert und Kenning ihre Analyse auf den Punkt. Es gebe einen vielfältigen Mix an Gründen, die zu einem Kirchenaustritt führen könnten. Und nicht auf alle Faktoren habe das Bistum überhaupt einen Einfluss, erklären die Professoren. Gerade wenn es um die Beziehung des Einzelnen zur Kirche oder Pfarrei gehe, könnten die Verantwortlichen die Zufriedenheit jedoch erhöhen und die Austrittswahrscheinlichkeit verringern.
Umfrageergebnisse in Pastoralpläne einbeziehen
Das sieht Bischof Genn ähnlich. Er weiß um den individuellen Wertewandel und dass dieser "auch an der traditionellen Volkskirche nicht spurlos vorbei" gehe. Er weiß auch, dass sich die Gestalt von Kirche verändert hat und sich weiter verändern wird. In welche Richtung es genau gehen werde, könne auch er noch nicht sagen, gibt der Bischof offen zu. Auch deshalb habe das Bistum die Befragungen initiiert: um herauszufinden, wie die Situation bei den Gläubigen vor Ort ist, womit die Menschen zufrieden sind und welche Erwartungen sie an die Kirche haben. Auch wenn die Antworten der Gläubigen "nicht zu einem falschen Aktionismus führen" würden, wolle man sie bei der Kirchenentwicklung und den lokalen Pastoralplänen berücksichtigen.
Im Mittelpunkt steht dabei die Grundidee von Kirche im 21. Jahrhundert, die Genn noch einmal deutlich macht: "Wir wollen an der Seite der Menschen und mitten unter ihnen stehen. Wir wollen, wie Papst Franziskus es sagt, 'den Geruch der Schafe' annehmen. Wir wollen eine einladende und keine ausschließende und selbstbezogene Kirche sein. Wir wollen eine Kirche sein, die die Charismen und Begabungen aller Gläubigen aufsucht und fördert. Wir wollen eine Kirche sein, die für die Menschen da ist – gerade für die Armen und Schwachen in unserer Gesellschaft."