Architekt: Kirchen in der Ukraine nach Krieg modern wieder aufbauen
Wie geht es nach dem Krieg in der Ukraine weiter, auch architektonisch? Diese Frage beschäftigt Kreative im Land und darüber hinaus. Wie sieht es da mit den vielen Kirchen aus? Der Architekt Philipp Meuser hat sich auf Bauten mit besonderem Sicherheitsbedarf spezialisiert, zum sowjetischen Wohnungsbau promoviert und ist Ehrenprofessor an einer Hochschule in Charkiw. Im Interview spricht er über Tradition, eine sich verändernde Gesellschaft und moderne architektonische Ausdrucksformen.
Frage: Nach dem Ende der Sowjetunion wurden einige Kirchen, die in der Stalinzeit abgerissen wurden, wieder aufgebaut, zum Beispiel die Verklärungskathedrale in Odessa. Im 19. Jahrhundert gebaut, auf Anweisung Josef Stalins 1936 zerstört und seit 1999 möglichst originalgetreu rekonstruiert, ist sie durch den Krieg in der Ukraine wiederum stark beschädigt worden. Sollten solche Kirchen nach dem Krieg wieder originalgetreu aufgebaut werden?
Meuser: Meiner Meinung nach muss man diese Kirchen anders aufbauen. Es gibt zwar in der orthodoxen Kirche ein ungeschriebenes Gesetz, das man alles immer rekonstruiert, wie es früher gebaut wurde. Aber im 21. Jahrhundert sollten wir Kirchen modern interpretieren, wie es etwa nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland geschehen ist. Kirchen können da auch architektonisch der Ausdruck einer modernen Gesellschaft sein.
Frage: Wie könnte ein zeitgenössischer Umgang mit beschädigten, teilweise oder gänzlich zerstörten Kirchen aussehen?
Meuser: Es gibt eine Typologie von Kirchen, also Bauteile mit bestimmten Bedeutungen. Diese Bauteile können aber architektonisch unterschiedlich interpretiert werden. Die Orthodoxie gibt ganz besondere Typologien vor, etwa die Aufteilung des Gottesdienstraumes oder die Anordnung eines Gebäudeensembles. Dann geht es aber um die heutige Ausgestaltung davon: Dafür sollten Wettbewerbe ausgeschrieben werden, innerhalb derer Architekten und Kirchengremien mit der jeweiligen Gemeinde über das künftige Antlitz einer Kirche entscheiden. Diese Typologie sollte dann zeitgenössisch, modern dargestellt werden. Das gilt natürlich für Neubauten, aber auch für den Umgang mit beschädigten Gotteshäusern. Da gibt es schon Best-Practice-Beispiele, an denen man sich orientieren kann. Nehmen Sie etwa die Gedächtniskirche in Berlin, die nach dem Zweiten Weltkrieg beschädigt belassen und durch einen Neubau ergänzt wurde. Oder den Kölner Dom, in dessen Innerem Kriegszerstörungen durch damals moderne Architektur behoben wurden. Das können auch für die Ukraine Impulse sein. Dort gibt es einen Staat und eine Gesellschaft, die sich nach dem Krieg erneuern möchte. Dem kann architektonisch Ausdruck verliehen werden.
Frage: Gerade in der orthodoxen Kirche in der Ukraine gibt es ja Spannungen. Eine Kirche orientiert sich nach Moskau, die andere nach Konstantinopel. Sehen Sie da die Tendenz, russische Bauformen in der Zukunft zu vermeiden?
Meuser: Wir haben aus der Geschichte gelernt, dass wir nach einer Konfliktsituation die Architektur des Besiegten oder eines Feindes nicht diffamieren sollten. Architektur ist an sich erst mal politisch unschuldig. Es sollte eher darum gehen, wie das Innenleben der Architektur gestaltet und wie sie genutzt wird. Wir haben in Deutschland auch Bauten aus der NS- oder DDR-Zeit. Auch da gab es gute Architektur – die wir aber für unsere Gesellschaft umgenutzt haben. Das Wichtige ist dabei, dass man daran erinnert, was in diesen Gebäuden stattgefunden hat. Zerstörung ist da keine Lösung. Ab 2015 gab es in der Ukraine diese Bewegung, alles Sowjetische zu tilgen, zum Beispiel große Wandmosaike. Das ist eine falsche Herangehensweise. Es haben schon Generationen vor uns den Fehler gemacht, die Vergangenheit ausradieren zu wollen. Wir aber sollten uns das bauhistorische Erbe bewusst machen und transformieren. Das gilt insbesondere für Kirchen, die über Jahrhunderte ihre Bestimmung als Gebäude behalten haben. Sie haben eine Bedeutung als Ort der Geschichte und der Identität. Das müssen wir erhalten und bestärken.
Frage: Gibt es in der Ukraine den Ansatz, das architektonische Stadtbild nach dem Krieg neu zu erfinden? Also etwa mit bewusst westlichen Formen.
Meuser: Natürlich gibt es unter ukrainischen Architekten den Blick nach Westen, weil man glaubt, dass man durch den Anschluss an Europa die Gesellschaft besser und schneller reformieren kann. Ich sehe aber auf der anderen Seite auch einen ganz starken Willen der Kollegen, eigene Bauformen zu finden. Die Ukraine ist ein Vielvölkerstaat. Dort gibt es ganz unterschiedliche architektonische Traditionen, von byzantinischen Elementen über eine russische Formensprache im Osten bis zu starken polnischen Einflüssen im Westen. Das ist ein großer Schatz! Ich kann mir nur wünschen, dass ukrainische Architekten das verstehen und wertschätzen, dass sie ihre Traditionen als Ressource für neue, heutige Entwürfe verstehen. Solche Tendenzen gibt es glücklicherweise bereits.
Frage: Kirchen sind ja immer auch identitätsstiftende Bauten. Wie kann da eine zeitgenössische Identität architektonisch aussehen?
Meuser: Indem wir uns das Wesentliche bewusst machen. So wird bei orthodoxen Kirchenbauten seit Jahrhunderten der Turm nicht wie im Westen in das Kirchenschiff integriert, sondern ist ein freistehendes Bauwerk für sich. Man kann also diesen Bautypus nehmen und weiterentwickeln, etwa durch die Benutzung moderner Materialien oder indem man den orthodoxen Baustil modern interpretiert. Wichtig ist hierbei wieder, die Menschen einzubinden, die mit diesem Bauwerk leben. So kann eine bedeutungsvolle Architektur und ein Beitrag zur Baukultur entstehen. Da hat die Architektur die Kraft, eine sich verändernde Gesellschaft fassbar zu machen. Die ukrainische Gesellschaft muss sich neu finden und findet sich neu – auch architektonisch.
Frage: Wenn man sich den architektonischen Umgang der Nachkriegszeit etwa mit Kirchen des 19. Jahrhunderts ansieht, sind manche der damaligen Lösungen heute bei Gläubigen nicht mehr so gern gesehen, sie gelten oft als unterkühlt. Wie kann eine Uminterpretation von Architektur nachhaltig sein?
Meuser: Geschmack ändert sich – Spiritualität auch. Wer heute eine Kirche besucht, sucht oft Besinnung – geht das in einem barocken Raum voller bunter Engelchen? Dieser Zeitgeschmack wird sich auch wieder ändern. Aber wir leben im Heute. Das ist alles ein Balanceakt – in dessen Mittelpunkt der Respekt steht. Es gibt Architektur der Vergangenheit, mit der wir heute nichts mehr anfangen können, die uns aber etwas über unsere Geschichte sagt. Andere Anforderungen wiederum – zum Beispiel technischer Natur wie Heizungen und Soundanlage – sind für ein Kirchengebäude heute unerlässlich, um funktionieren zu können.
Deshalb ist es wichtig, zu transformieren. Ein Gebäude muss sich verändern können. Das Schlimmste, was passieren kann, ist der Drang, alles so zu konservieren, wie es ursprünglich mal gebaut wurde. Das ist auch ein Problem der orthodoxen Bautradition, dass sie sich zu sehr in der Vergangenheit verliert. Wir müssen uns heute im Kirchenbau fragen: In welchem Umfeld wollen wir Gottesdienst feiern? Wie gehen wir mit Lichtinszenierung, mit der Gestaltung von Gemeinschaft um? Auf diese Punkte müssen wir uns konzentrieren. Das sind immanent religiöse und zugleich architektonische Fragen.