"Es ist Sensibilität gewachsen"
Frage: Herr Bentz, laut Bischof Franz-Josef Bode werden in den Priesterseminaren mehr Bewerber als früher abgewiesen, seitdem der Missbrauchsskandal aufgedeckt wurde. Stimmt das?
Bentz: Man kann nicht sagen, seit 2010 würden wir deshalb mehr Bewerber ablehnen, weil wir plötzlich auf etwas völlig "Neues" achten, worauf vorher gar nicht geachtet worden wäre. Ich bin seit 2007 Regens und habe von Anfang an jedes Jahr etliche der Bewerber nicht in die Ausbildung genommen – aus ganz verschiedenen Gründen. Dennoch hat der Bischof recht: Durch viele Gespräche mit Fachleuten und den Austausch unter uns Kollegen ist eine Sensibilität gewachsen. Wir hatten in den zurückliegenden Jahren eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema "sexueller Missbrauch" und "Prävention". Es gab keine Zusammenkunft unter uns Priesterausbildern, bei der wir nicht auch darüber gesprochen haben. Das verändert die Perspektive. Ich schaue mir die Interessenten heute anders an. Ich gewichte auch meine Wahrnehmungen anders. Wir haben uns als Regenten auch gefragt: Was können wir präventiv beitragen?
Frage: Zur Prävention gehört es auch, ungeeignete Kandidaten abzulehnen. Wie sehen Ihre Kriterien für Bewerber aus?
Bentz: Zunächst braucht es eine Reihe von Gesprächen über einen längeren Zeitraum hinweg, damit man sich ernsthaft ein Gesamtbild von der Persönlichkeit des Bewerbers machen kann. Der Regens sollte nicht der Einzige sein, der am Aufnahmeverfahren beteiligt ist, sondern auch der Subregens oder andere Personen in der Personalverantwortung des Bistums. Die Verantwortlichen sollten immer gemeinsam zu einem Votum über die Zulassung oder Ablehnung kommen. Soweit ich das weiß, gibt es mittlerweile in fast allen Diözesen im Zusammenhang mit dem Aufnahmeverfahren oder in der Anfangsphase der Ausbildung auch Gespräche mit psychologischen Fachkräften. Das konkrete Setting dafür ist unterschiedlich. Wir in Mainz haben zum Beispiel vor Beginn der Ausbildung ein Wochenende mit Psychologen, bei dem biographisch gearbeitet wird und durch verschiedene Verfahren und Übungen bestimmte Persönlichkeitskompetenzen in den Blick genommen werden. Am Ende erhält der Student ein ausführliches Feedback über Stärken und mögliche Lernfelder für seine Persönlichkeitsentwicklung.
Frage: Und was ist das Ziel des ganzen Verfahrens?
Bentz: Klarheit zu finden über die Ernsthaftigkeit und Reife der religiös-spirituellen Motivation, den Beruf zu ergreifen. Darüber, welche biographischen Prägungen die Persönlichkeit ausmachen. Wichtig ist auch, einen Eindruck davon zu bekommen, welche sozialen Kompetenzen jemand mitbringt. Dabei muss man sagen: Jeder Personalverantwortliche weiß, die Möglichkeit Bewerber in Aufnahme- und Auswahlverfahren umfassend wahrzunehmen, ist begrenzt. Erst im Priesterseminar beginnt die eigentliche Arbeit der Ausbildungsverantwortlichen. Man muss sowohl fördernd als auch fordernd agieren. Man muss sich eine kritische Distanz bewahren. Es braucht während der gesamten Ausbildungszeit Klarheit und den Mut, bei kritischen Entwicklungen Kandidaten auch wieder wegzuschicken.
Frage: Was hat sich seit 2010 alles geändert?
Bentz: Das Stichwort "Persönlichkeitsentwicklung und -reife" steht mittlerweile noch mehr als vorher im Fokus. Dazu wurden an vielen Ausbildungsstätten die pastoral-psychologischen Ausbildungseinheiten überarbeitet und neu gewichtet. Wir haben mit den geistlichen Begleitern und Fachleuten im sogenannten "Forum internum" gesprochen und gemeinsame Fortbildungen gehabt. Gerade in diesen Begleitungsprozessen gibt es noch einmal andere Möglichkeiten auf die Persönlichkeitsentwicklung, Fragen der Identität und der Sexualität oder das Beziehungsverhalten zu schauen. Wir haben natürlich auch alle Anforderungen aus den Richtlinien zur Prävention übernommen: ein erweitertes Führungszeugnis vor der Aufnahme, das alle fünf Jahre neu angefordert wird, spezielle Präventionsschulungen während der Studienzeit, in der pastoralen Ausbildungs- und noch einmal in der Berufseinführungsphase. Ich glaube aber, dass wir damit noch nicht am Ende sind.
„Zölibat ist nicht einfach Verzicht auf Sexualität – fertig aus.“
Frage: Was muss denn noch geschehen?
Bentz: Es genügt nicht, ein paar zusätzliche Seminare anzubieten, die die Kandidaten "durchlaufen müssen". Da soll man sich nichts vormachen. Weitere Fragen stellen sich: Wie "abgeschottet" oder wie vernetzt geschieht Ausbildung? Welches Gesprächsklima gibt es? Welche Lernbereitschaft im Blick auf die eigene Persönlichkeit bringen die Kandidaten ein? Denn jedem Kandidaten muss klar sein, dass seine Persönlichkeit das entscheidende "Werkzeug" für seine spätere priesterliche Aufgabe sein wird. Also muss auch jeder bereit sein, in dieser Hinsicht an sich selbst zu arbeiten und sich darin begleiten und formen zu lassen. Wir sprechen da ja gerne von der Priesterausbildung als "formatio". Ebenso muss klar sein: Wenn ich die Priesterausbildung aufnehmen möchte, werde ich mich auch mit dem Thema "Sexualität" auseinandersetzen müssen. Daran darf keiner vorbeikommen.
Frage: Der Kirche wird aber häufig vorgeworfen, das Thema Sexualität zu tabuisieren.
Bentz: Gegen manche Vorurteile ist es wirklich schwer anzukämpfen – natürlich wird in der Ausbildung über Sexualität gesprochen! Es wäre unverantwortlich, es nicht zu tun. Wir haben ein sehr differenziertes System der Möglichkeiten, dieses Thema anzugehen: in der geistlichen Begleitung im "Forum Internum", in psychologischen Kursen und Einzelgesprächen – und natürlich auch in den Begleitungsgesprächen mit der Ausbildungsleitung.
Frage: Pater Klaus Mertes, der den Missbrauchsskandal aufgedeckt hat, spricht davon, dass Priestern eine "nicht gelebte Beziehungsdimension" Probleme bereiten könnte. Wie bereiten sie die Kandidaten auf den Zölibat vor?
Bentz: Etwas Grundsätzliches vorweg: Zölibat ist nicht einfach "Verzicht auf Sexualität" – fertig aus. Merkwürdigerweise gibt es solche schrägen Vorstellungen auch bei manchen Psychologen, die sich dieser Tage zu Wort gemeldet haben. Zölibatäres Leben ist eine bestimmte "geistliche Lebenskultur" – ich wähle absichtlich diesen etwas hochtrabenden Begriff. Natürlich muss man sich mit den Fragen auseinandersetzen, wie man mit sexuellen Bedürfnissen umgeht, welche sexuelle Identität jemand hat und wie integriert das alles in der Persönlichkeit ist. Es gehören aber noch andere Fragen ganz elementar dazu.
Frage: Welche sind das?
Bentz: In den vergangenen Jahren ist im Verlauf der Diskussion zum Beispiel deutlich geworden, dass das Thema "klerikalisierte Macht" eng mit der Frage der Missbrauchsprävention zu sehen ist. Es geht außerdem um das Beziehungsnetz werdender Priester, darum, wie ich Freundschaften und Beziehungen gestalte. Zölibatär leben heißt gerade nicht beziehungslos leben. Dabei spielt auch die wichtige Frage eine Rolle, wie ich mit dem berechtigten Bedürfnis nach emotionaler Intimität umgehe: Was bedeutet Nähe und Distanz in den professionellen und in den persönlichen Beziehungen des Seelsorgers? Wie erlebe ich als Zölibatärer Geborgenheit und Halt, Vertrautheit und Hingabe? Und was heißt das noch einmal im Blick auf die persönliche Gottesbeziehung, die ja Dreh- und Angelpunkt dieses Lebensentwurfs ist? Die Priesterausbildung dauert in der Regel von Beginn bis zur Weihe sieben Jahre. Man kann diese Themen nicht wie in einem Lehrplan abhandeln. Entscheidend ist, dass in dieser Zeit entsprechende Prozesse der Auseinandersetzung initiiert werden.
Frage: Ist eine pädophile Veranlagung dann eigentlich ein Ausschlusskriterium, wenn der Priester später sowieso zölibatär lebt?
Bentz: Grundsätzlich gilt: Ja – eine pädophile Veranlagung schließt die Zulassung zum Weihesakrament aus angesichts dessen, was priesterliche Berufung im ganzen Spektrum bedeutet. Denn Zölibat heißt ja nicht: Ausschluss und Verdrängung der Sexualität und auf alles andere käme es dann nicht an. Um erfüllt zölibatär leben zu können, braucht es ein großes Maß an innerer Freiheit und Festigkeit, klare Identität, Integration und Annahme der eigenen sexuellen Identität. Die zölibatäre Lebensform soll Lebensenergien und geistliche Kräfte freisetzen und nicht binden. Wer eine pädophile Präferenz hat, hat schwierige Herausforderungen im Blick auf die Integration dieser sexuellen Präferenz zu meistern.
Frage: Einerseits gibt es so schon immer weniger Bewerber für das Priesteramt, andererseits schauen Sie nun noch genauer hin und weisen mehr Kandidaten ab. Was bedeutet das für die Zukunft der Kirche?
Bentz: Als Ausbildungsverantwortlicher sage ich, dass Qualität vor Quantität gehen muss. Dem fühle ich mich verpflichtet. Auch wenn es wenige Bewerber gibt, darf ich keine Abstriche an den Anforderungen und Erwartungen an die Kandidaten vornehmen.
Das Interview führte Björn Odendahl