Theologe und Ökonom wirft unternehmensberaterischen Blick auf KMU-Ergebnisse

Ulrich Hemel: Kirche ignoriert Bereiche, in denen sie noch Erfolg hat

Veröffentlicht am 27.12.2023 um 00:01 Uhr – Von Matthias Altmann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Welchen Rat gibt ein Unternehmensberater der Kirche angesichts der Erkenntnisse aus der KMU? Theologe und Wirtschaftsexperte Ulrich Hemel sagt: Sie sollte sich auf erfolgreiche Felder konzentrieren. Im katholisch.de-Interview erklärt er zudem, wo neben den üblichen Fragen Reformpotenzial liegt.

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Gesunkene Kirchenbindung, kaum noch Vertrauen, hohe Austrittszahlen: Studien wie die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) beschreiben schonungslos die Lage der Kirchen in Deutschland. Aus den Prognosen ergeben sich auch ökonomische Fragen: Welche Projekte in der Seelsorge haben Zukunft und sollen erhalten werden? Der Theologe und Ökonom Ulrich Hemel, langjähriger Wirtschaftsberater und ehemaliger Präsident des Bunds Katholischer Unternehmer (BKU), sagt: Die katholische Kirche in Deutschland muss sich fragen, ob ihr pastorales Angebot noch den Nerv der Zeit trifft. Dennoch sieht er ihre Lage als nicht hoffnungslos an. Doch dafür sollte die Kirche auch ihre Hausaufgaben machen. Ein Interview.

Frage: Herr Hemel, nach der Veröffentlichung der KMU ist erneut von einem Weckruf an die katholische Kirche die Rede. Wenn Sie aus unternehmensberaterischer Sicht draufblicken: Worin besteht dieser?

Hemel: Jede Organisation lebt vom Zuspruch ihrer Mitglieder. Wenn es um ein Unternehmen ginge, würde man sagen: Es lebt vom Zuspruch der Kundinnen und Kunden. Und wenn der Zuspruch so massiv einbricht, stellt sich die Frage, welches Angebot man macht oder ob es den Nerv der Zeit trifft. Und da sind bestimmte Dinge außerordentlich auffällig.

Frage: Welche?

Hemel: Beispielsweise gibt es einen großen Zulauf zu katholischen Schulen und Bildungseinrichtungen. Die spielen aber in den Überlegungen bei den einzelnen Diözesen, aber auch in Organisationen wie dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, nur eine untergeordnete Rolle. Das hängt damit zusammen, dass die Entscheidungsstrukturen in der Kirche sehr stark von den pastoralen Berufen ausgehen. Als Folge daraus kommen andere Bereiche weniger in den Blick. Das gilt beispielsweise auch für den Religionsunterricht. Da haben wir immer noch rund 70.000 Menschen, die Tag für Tag als Religionslehrer arbeiten, die aber kaum beachtet werden im kirchlichen Geschehen. Wir haben noch immer fast 1.000 katholische Schulen in Deutschland, die aber in der allgemeinen Diskussion unsichtbar sind. Hier haben wir eine gesellschaftliche Nachfrage nach einem Angebot, das den Begriff "katholisch" immer noch im Namen trägt. Aber wir haben in unserer eigenen Kirche kein Bewusstsein dafür, dass wir hier ein Pfund haben, mit dem wir wuchern können.

Frage: Das heißt, die Kirche fokussiert sich bei ihrem Angebot auf falsche Bereiche?

Hemel: Ich beobachte eben, dass es eine höchst merkwürdige Verhaltensweise ist, genau den Bereich zu ignorieren, in dem man Erfolg hat. Umgekehrt wird versucht, den Bereich fast schon mit einem Akt der Verzweiflung aufrechtzuerhalten, bei dem der Misserfolg mit Händen zu greifen ist.

Bild: ©picture alliance/FrankHoermann/SVEN SIMON (Symbolbild)

"Wir haben keine emotionale Bindekraft der Gemeinden", stellt Ulrich Hemel fest. Dabei könnte man diese leicht herstellen: "Wenn wir wirklich Beteiligung wollen und die Menschen das Gefühl haben, dass sie mitreden können, dann werden sie ihre gesamte Kreativität einbringen."

Frage: Welche Bereiche sind das?

Hemel: Wir haben keine emotionale Bindekraft der Gemeinden. Die Taufen brechen ein. Am Sonntagsgottesdienst nehmen noch rund fünf Prozent der Kirchenmitglieder teil. Wäre er attraktiver, kämen mehr Menschen. Wir schneiden die Pfarrgemeinden nach der Zahl der verfügbaren Priester zurecht. Das muss nicht sein, hier gibt es Alternativen. Menschen erfahren in der Kirche immer wieder Entmündigung und Entmutigung, bis heute. Das ist ja nun gerade nicht der Kern der christlichen Botschaft. Und als Folge daraus sind andere Fragen ja noch gar nicht in den Blick gekommen, etwa die nach den rund 45.000 Gebäuden, die der katholischen Kirche in Deutschland gehören, und von denen viele in den kommenden Jahren überflüssig werden. Dazu kommt das große Thema der Kirchenfinanzen, das jeden Tag dringender wird, weil es durch die schwindenden Mitgliedszahlen massiv auf uns zukommt. So haben wir eine Reihe von praktischen und strategischen Folgefragen, die wir unbedingt angehen müssen.

Frage: Wenn wir über Angebot und Nachfrage sprechen: Die Studienautoren stellen unter anderem fest, dass Religiosität fast nur noch da vorhanden ist, wo es auch noch kirchliche Bindung gibt. Sollte sich die Kirche deshalb nicht lieber auf die "Stammkundschaft" fokussieren?

Hemel: Das ist eine strategische Frage, wenn man es allgemein betrachtet. Es ist vor allem aber eine theologische, wenn man sie speziell auf die Kirche bezieht. Der Rückzug auf einen "heiligen Rest" entspricht dem Evangelium gerade nicht, denn die christliche Kirche hat eine frohe Botschaft, die zur weiteren Verbreitung drängt. Insofern scheint mir der reine Rückzug auf die "kleine Herde" theologisch nicht ausreichend durchdacht. Deswegen wundert es mich ja auch, dass wir als Kirche nicht stärker überlegen, wie wir diese gute Botschaft in die Gesellschaft aktiver und mutiger als bisher hineintragen können.

Frage: Was ist mit Gemeinden? Haben die organisationspraktisch gesehen angesichts der Entwicklung in ihrer jetzigen Form noch eine Zukunft?

Hemel: Natürlich werden Gemeinden nach wie vor ihre Rolle haben. Aus der KMU wird ja auch deutlich, dass die frühere Idee "Glaube ja, Kirche nein" ein Übergangsphänomen zu sein scheint, weil eine Glaubensgemeinschaft auf Dauer eben doch das religiöse Interesse trägt. Ganz alleine halten das wenige durch. Aber die Gemeinden werden einen Funktionswandel erleben. Sie müssen im besten Sinn des Wortes selbstorganisierter, einladender, offener und auch ökumenischer werden. Die Ökumene wird immer wieder "vergessen", dabei müssen wir in Zeiten großer Individualisierung über alle christlichen Gemeinschaften hinweg stärker als bisher zusammenstehen!

Frage: Sie haben den Bereich Schule und Bildung angesprochen. Inwiefern könnte es nachhaltig sein, den besser in den Fokus zu nehmen?

Hemel: Wenn in den Familien das Thema der religiösen Erziehung gar nicht mehr vorkommt, dann ist das etwas, was zur Handlung drängen könnte: Stärkt Familien in ihrer Fähigkeit, den Kindern und Jugendlichen zu helfen, ihre religiöse Kompetenz zu entwickeln und mit religiösen oder im weitesten Sinne philosophischen Fragen umzugehen. Das geschieht aber nur sehr verhalten. Familienbildung, Werteorientierung, schulische und außerschulische Bildung sind Themen, bei denen die Kirche wirklich etwas kann, wo sie auch nachgefragt wird und wo sie in Fragen einer großen gesellschaftlichen Polarisierung eine gewaltige Aufgabe hat. Wenn wir Menschen die Chance geben, ein Wertegerüst für das eigene Leben mit Sinn aufbauen, helfen wir ihnen, sich in dieser verwirrenden und schwierigen Zeit zurechtzufinden. Das ist der Auftrag von Kirche.

„Wenn wir Menschen die Chance geben, ein Wertegerüst für das eigene Leben mit Sinn aufbauen, helfen wir ihnen, sich in dieser verwirrenden und schwierigen Zeit zurechtzufinden. Das ist der Auftrag von Kirche.“

—  Zitat: Ulrich Hemel über die Zukunft des Bereichs Schule und Religionsunterricht

Frage: Die Kirche hat in den vergangenen Jahren gerade niederschwellige Angebote für Fernstehende gepusht, sei es Urlaubs- oder Citypastoral. Welche Zukunft haben denn solche Formate angesichts der Studienergebnisse?

Hemel: Solche Angebote liegen ja gerade in der Logik dessen, dass wir auf Menschen zugehen sollten. Wer das nicht tut, kann nicht erfahren, was der andere denkt und meint. Ich finde schon, dass es Formen des Gesprächs geben soll und dass wir gerade diese Formen sogar unbedingt stärken sollten, um als Kirche, um als Glaubensgemeinschaft wieder ins Gespräch zu kommen.

Frage: Was wären noch gute Leuchtturmprojekte, um die Kirche wieder ins Gespräch zu bringen?

Hemel: Sie brauchen nur das Evangelium zu lesen, da steht ja schon sehr deutlich drin, dass Jesus sich in paradoxen Interventionen geübt hat. Ich finde, die Kirche sollte einfach Muskeln aufbauen im Bereich der paradoxen Intervention. Da gibt es durchaus eine ganze Reihe von wirklich notwendigen Aufgaben. Denken Sie mal an die 800.000 Menschen, die auf der Straße leben. Das ist ein Thema, das leicht übersehen wird. Wir haben – wie gerade angedeutet – besonders in diesen Zeiten eine Riesenaufgabe beim ökumenischen und auch interreligiösen Dialog. Das Problem ist: Wir machen unseren Blick in vielen Bereichen zu eng, statt ihn zu weiten. Und deshalb braucht es gerade jetzt solche Projekte, eben bei den Themen, wo die Gesellschaft im Augenblick nicht gut hinguckt. Da nehme ich auch das Thema Geflüchtete dazu: Wir müssen auch zu ihnen den Kontakt suchen. Da hätten dann auch Gemeinden eine weitere, neue und alte diakonische Aufgabe.

Frage: Was bedeutet das alles für die künftige Ausrichtung der "Marke" Kirche?

Hemel: Sie soll stärker die Energie nach außen richten statt nach innen. Im Augenblick kreisen die Aktivitäten in der Kirche um die Aufarbeitung des Missbrauchs und die Reformen. Natürlich sind Kirchenreformen überfällig und natürlich müssen wir weiter aufarbeiten – übrigens auch mit staatlicher Hilfe und mit externen Stellen. Das sind aber Themen, die sehr stark in die Binnenorientierung einer Organisation hineinragen und nicht stark nach außen wirken. Die Kirche muss zeigen, welche Kraft in einem Leben stecken kann, das sich auf Glaubensfreude einlässt. Da sollten wir viel mutiger vorangehen, um auch klarzumachen, was da an Gutem innerhalb der Kirche geschieht – eben durch Leuchtturmaktionen. Ein konkretes Beispiel könnte eine neue Initiative der Kirche für den sozialen Wohnungsbau sein.

Frage: Sie haben die notwendigen Reformen angesprochen. Da gibt es immer noch einen Papst und einen Vatikan, die mitreden. Wie viel "Sanierungspotenzial" steckt in der Kirche außerhalb der gängigen Fragen?

Hemel: Die Kirche hat so viele Möglichkeiten, sich intern zu reformieren, die in der Öffentlichkeit noch gar nicht zum Ausdruck gekommen sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wir haben immer noch tolle Ordensgemeinschaften, aber die kriegen von der Kirchensteuer nichts ab. Ist das fair? Ich meine nein. Die Verteilung der Kirchensteuermittel erfolgt zentral über die Diözesen. Gibt es andere Modelle? Ja, die gibt es, schauen Sie mal in die Schweiz. Die Leute dort sind mit dem Verteilungsmodus deutlich zufriedener als die Menschen in Deutschland. Dann ist da immer noch die angesprochene Frage nach den Kirchengebäuden und Immobilien. Das alles sind die Hausaufgaben der Kirche in Deutschland. Doch die hat sie überhaupt noch nicht gemacht. Der Auftrag lautet also: Hier in Deutschland das zu machen, was wir tun können, und zugleich weiterhin mutig Reformen eintreten. Bei denen bleibe ich mit Blick auf die Weltsynode durchaus zuversichtlich!

Eine moderne Kirche muss (auch) wie ein Unternehmen denken

Um in der Moderne attraktiv zu sein, muss die Kirche auch wie ein Unternehmen denken, findet der BKU-Vorsitzende Ulrich Hemel. Das bedeute, die Gläubigen ernst zu nehmen und Berufsrollen neu zu definieren. Manches Erbe dürfe man jedoch nicht zerstören, so der Theologe und Unternehmensberater. (Interview vom Oktober 2019)

Frage: Bei allem Reformstau und unerledigten Hausaufgaben: Wie skeptisch oder optimistisch blicken Sie auf die Zukunft der Kirche in Deutschland?

Hemel: Wenn ich nach dem Zustand der katholischen Kirche in Deutschland gefragt werde, dann drängt sich mir im Moment das Bild von jemandem auf, der von einem Hochhaus herabspringt und beim Vorbeifliegen am 20. Stockwerk sagt: "Was wollt ihr eigentlich? Es ist ja noch gar nichts passiert." Nach wie vor gibt es meiner Ansicht nach eine gewisse Realitätsverweigerung bei vielen Akteurinnen und Akteuren in der Kirche in Deutschland. Denn sie nehmen den eigenen Anteil an dem, was man tun kann, nicht ausreichend wahr. Ich erwarte daher leider, dass wir erstmal deutlich mehr Mitglieder verlieren, und dass wir uns dadurch auch neu besinnen müssen. Und gerade in dieser Zeit müssen wir Inseln der Hoffnung schaffen. Ich habe das in meiner unternehmerischen Praxis bei Sanierungen gelernt: Wenn es bei allem nötigen Rückbau keine Hoffnungsprojekte gibt, dann gelingt die Sanierung deutlich seltener.

Frage: Und wie ist die mittelfristige Perspektive?

Hemel: Mittelfristig erwarte ich sehr wohl, dass Kirche wieder zum Sauerteig werden kann in der Gesellschaft. Im Augenblick ist unser Blick etwas verengt auf das, was sich alles gerade verändert, vielleicht auch auf das, was wir abgeben müssen. Aber wenn wir in der Gesellschaft die richtigen Themen setzen, können wir weiterkommen. Insofern gebe ich die Hoffnung in keiner Weise auf. Das ist nämlich eine Erfahrung, die es allenthalben gibt – auch im unternehmerischen Bereich. Und dann liegt es auch am Gesetz der großen Zahl: In einer großen Organisation haben Sie immer auch Kräfte der Erneuerung, das dauert nur eben eine gewisse Zeit. Man darf diese Selbsterneuerungskräfte niemals unterschätzen. Die katholische Kirche in Deutschland hat nach wie vor über 21 Millionen Mitglieder, weltweit fast 1,4 Milliarden Menschen. Wenn wir wirklich Beteiligung wollen und die Menschen das Gefühl haben, dass sie mitreden können, dann werden sie ihre gesamte Kreativität einbringen. Dieses Gefühl des Aufbruchs brauchen wir. Ich glaube, dass sich die Kirche tatsächlich erneuern kann. Und schließlich sind wir nicht allein: Es gibt ja auch so etwas wie das überraschende Wirken des Heiligen Geistes.

Von Matthias Altmann