Zweifel an Rechtsstaatlichkeit des Vatikan-Verfahrens

Politikwissenschaftler: Haftantritt von Becciu unwahrscheinlich

Veröffentlicht am 19.12.2023 um 11:19 Uhr – Lesedauer: 

Köln/Aachen ‐ Fünfeinhalb Jahre Haftstrafe für Kardinal Angelo Becciu aufgrund von dubiosen Immobiliengeschäften: Das Urteil des Vatikan-Strafgerichts ist ein Signal. Doch muss Becciu wirklich ins Gefängnis? Der Vatikan-Experte Ralph Rotte hat Zweifel.

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Der Aachener Politikwissenschaftler Ralph Rotte sieht es als wenig wahrscheinlich an, dass Kardinal Angelo Becciu nach dem Schuldspruch im Prozess um den Vatikan-Finanzskandal tatsächlich ins Gefängnis muss. Gegen einen tatsächlichen Haftantritt spricht aus Sicht des Experten für die internationalen Beziehungen des Heiligen Stuhls die Zusammensetzung der Berufungsinstanz und Besonderheiten im vatikanischen Strafrecht, sagte er am Montag gegenüber dem Kölner "Domradio". Durch die Berufung gebe es erst einmal eine Karenzzeit für den in erster Instanz zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilten Kardinal. Der Appellationshof sei mehrheitlich mit Klerikern besetzt: "Da ist interessant, wie die mit ihrem 'Genossen' umgehen und ob das etwas anderes ist als in der ersten Instanz", so Rotte.

Durch die Änderungen des Strafrechts durch Papst Franziskus gebe es die Möglichkeit, bei guter Führung knapp ein Drittel der Strafe zu erlassen, außerdem könne der Papst begnadigen: "Das ist in der Vergangenheit auch immer wieder passiert." Eine weitere Möglichkeit sei eine Absprache mit dem Gericht, um die Haftstrafe etwa durch soziale Arbeit zu ersetzen. "Das heißt also, die Wahrscheinlichkeit auch vor dem Hintergrund, dass er jetzt schon Mitte 70 ist, dass da irgendwie groß etwas in Richtung Gefängnisstrafe passiert, ist, glaube ich, verhältnismäßig gering", so Rotte.

Der Politikwissenschaftler zweifelt außerdem, ob das Gericht des Vatikanstaates internationale rechtsstaatliche Standards erfüllt. "Es stellt sich natürlich die Frage, ob es in einem solchen Verfassungssystem wirklich so etwas gibt wie eine unabhängige Gerichtsbarkeit, wenn der Papst sozusagen alles in einem ist - höchster Richter, höchster Gesetzgeber, höchste Regierung und dann eben tatsächlich indirekt zumindest auf das Verfahren Einfluss nimmt", so Rotte. Da müsse man sich fragen, ob das mit rechtsstaatlichen Gepflogenheiten übereinstimme.

Elemente eines Sondertribunals

Kritiker sehen im Becciu-Prozess sogar Elemente eines Sondertribunals, da dafür spezielle Regeln eingeführt wurden wie die Möglichkeit, bei Anwesenheit eines Anwalts in Abwesenheit von Angeklagten zu verhandeln. Dass überhaupt ein Kardinal vor den Gerichtshof des Vatikanstaates gezogen werden kann, sei auch eine kurzfristige Änderung im Vorfeld des Prozesses. "Und wir haben natürlich so ein paar Verfahrensprobleme, dass zum Beispiel die Verteidigung einiger dieser Mandanten bis heute sagt, dass sie nicht Einsicht in alle Akten bekommen hat, vor allen Dingen elektronische Protokolle, dass es nicht möglich war, den Kardinalstaatssekretär Parolin zu befragen", so Rotte weiter. Das seien alles Punkte, die skeptisch machen in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens.

Am Samstag verkündete das vatikanische Strafgericht in erster Instanz das Urteil gegen Becciu und weitere Angeklagte. In dem am meisten Aufsehen erregenden Kapitel, dem von Becciu verantworteten verlustreichen Investment in eine Luxus-Immobilie in London, erkannte das Gericht, dass Becciu sich der Veruntreuung schuldig gemacht habe. Er habe 2013 und 2014 rund 200 Millionen US-Dollar in ein einziges Investment gesteckt. Bei der Summe habe es sich damals um etwa ein Drittel des gesamten Vermögens des vatikanischen Staatssekretariats gehandelt. Dennoch habe Becciu nicht überprüft, ob die Voraussetzungen für ein solches Investment überhaupt gegeben gewesen seien. An den weiteren betrügerischen Machenschaften im Zusammenhang mit dieser Investition sei Becciu nicht schuldig. Die daran Beteiligten erhielten jeweils mehrjährige Haftstrafen. (fxn)