Experte über EKD-Missbrauchsstudie: "Es wird Schockwellen geben"
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Die MHG-Studie hat 2018 die katholische Kirche in Deutschland von Grund auf erschüttert. Missbrauch ist seitdem ein kirchliches Kernthema. Die Studie war aber auch der Auslöser für die Reformen des Synodalen Weges. Am Donnerstag könnte die evangelische Kirche mit der "ForuM"-Studie das gleiche erleben. Was ist davon zu erwarten? Und wie sieht heute das Verhältnis von Protestanten und Katholiken in Deutschland aus? Der Journalist Benjamin Lassiwe ist selbst evangelisch und ein Experte für die evangelische Kirche.
Frage: Im November 2023 wurde eine Studie veröffentlicht, die besagt, dass noch 24 Prozent der Deutschen der evangelischen Kirche vertrauen, neun der katholischen. Beides dramatische Zahlen, aber warum steht die evangelische Kirche immer noch eine Nummer besser da?
Lassiwe: Wir haben alle den Missbrauchsskandal der letzten Jahrzehnte erlebt. Wir erleben auch, dass die evangelische Kirche im Unterschied zur katholischen Dinge macht, die aus Sicht vieler Menschen in Deutschland modern sind. Stichwort Trauung gleichgeschlechtlicher Paare, Stichwort Gleichberechtigung von Mann und Frau in den kirchlichen Ämtern, im Pfarramt und in der Kirchenleitung.
Das ist vielleicht eher eine Organisation, in der man Mitglied sein möchte, die stärker mit der Zeit geht. Ich würde es persönlich nicht unbedingt so sehen, weil ich auch gelegentlich hinter die Kulissen der evangelischen Kirche blicken kann. Ich kann mir aber vorstellen, dass es genau damit zusammenhängt, dass die evangelische Kirche mittlerweile von vielen in der Bevölkerung als die modernere und deswegen interessantere Kirche empfunden wird.
Frage: Trotzdem steht auf der anderen Seite das Totschlagargument: Die Austrittszahlen in der evangelischen Kirche sind proportional gesehen noch höher als in der katholischen. Auch Themen wie Machtmissbrauch oder sexualisierte Gewalt gibt es auf evangelischer Seite. Gibt es da einfach weniger Bindung an die Institution?
Lassiwe: Wer besonders liberal ist, für den ist es auch einfacher, eine Institution zu verlassen. Es ist schon so, zumindest nach meinem Eindruck. Je frömmer und je enger eine Gemeinde ist, desto weniger treten die Leute auch aus. Das heißt aber nicht, dass die engen und ganz frommen Gemeinden die besseren wären.
Frage: Wenn es um Reformen auf katholischer Seite geht, wird vieles angestrebt, das es auf evangelischer Seite schon gibt. Mitbestimmung für Frauen, anerkennung von homosexuellen Paaren. Von katholischen Reformgegnern kommt gerne der Satz: "Dann werdet doch einfach evangelisch." Was empfinden Sie dabei als evangelischer Christ?
Lassiwe: Was ist schlimm daran, evangelisch zu werden? Ich müsste ja selbst die Frage stellen, "Warum bin ich selbst in der Kirche?", wenn ich das schlimm finden würde. Ich glaube, dass es Unterschiede zwischen den beiden Kirchen gibt, die nicht politisch sind. Das ist zum Beispiel die Art und Weise, wie Gottesdienst gefeiert wird. Die Liturgie.
Das ist das Abendmahlsverständnis. Auch die Art und Weise, wie man Kirche lebt, also zum Beispiel das Verbändewesen der Katholiken, gibt es auf evangelischer Seite kaum. Das ist eine andere Form des praktischen Gemeindelebens. Das ist auch eine Frage der Mentalität an manchen Punkten.
Aber schlimm fände ich es nicht, wenn jemand sagen würde: Dann werdet doch evangelisch. Wie ich es übrigens auch nicht schlimm finde, wenn jemand sagen würde: Dann werdet doch altkatholisch oder katholisch. Das sind Verwerfungen aus einer alten Zeit, wo man sich so etwas an den Kopf warf. Im Alltag heute, denke ich, ist es wesentlicher, Christ zu sein, als die Frage, welcher Konfession man angehört.
Frage: Wie steht man denn auf evangelischer Seite – in der Hierarchie zum Beispiel – zu den Katholiken? Es gibt viele Höflichkeitsformeln und Respektsbekundungen, aber wie ehrlich ist das?
Lassiwe: Die Höflichkeitsformeln sind an vielen Stellen echt. Man bemüht sich um einen guten Kontakt miteinander. Ich erinnere mich noch daran, wie im Jahr 2016 der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz gemeinsam durch Israel pilgerten. Das war geprägt vom Bemühen, einander kennenzulernen. Da sind auch Freundschaften zwischen Leitungspersönlichkeiten entstanden, die auch heute noch halten.
Natürlich gibt es Situationen, wo man sich auch ein bisschen reibt. Gerade im Rheinland beispielsweise hat man massive Probleme damit, dass es einen Kardinal gibt, der das Ansehen von Kirche insgesamt schädigt und auch die evangelische Kirche vorsichtig formuliert ein bisschen in den Dreck reißt. Da ist man sicherlich nicht glücklich mit den Katholiken.
Frage: Am kommenden Donnerstag wird die große Missbrauchsstudie auf evangelischer Seite vorgestellt. Wie geht Ihrer Meinung nach die Evangelische Kirche mit diesem Thema um? Der Fokus liegt oftmals aus bekannten Gründen auf den Katholiken. Wir haben aber zum Beispiel gerade vor ein paar Wochen erst den Rücktritt der Ratsvorsitzenden Annette Kurschus erlebt, der ja auch mit ihrem Umgang mit Missbrauch in der Kirche zu tun hatte.
Lassiwe: Das Thema Missbrauch ist im evangelischen Raum präsent. Es ist allerdings nicht unbedingt in der Öffentlichkeit präsent, dass die evangelische Kirche auch eine relativ große Missbrauchsproblematik hat. Es gibt aber in vielen Landeskirchen mittlerweile Präventionsgesetze. In der Evangelischen Kirche gibt es generell eine Missbrauchsaufarbeitung, auch auf den Ebenen der Landeskirchen. Es gibt unabhängige Kommissionen, an die sich Betroffene wenden können.
Es gibt viele Strukturen, die geschaffen worden sind, bis hin zum Wichtigsten, dem Beteiligungsforum, an dem auch Betroffene beteiligt sind, die gemeinsam mit Vertretern der Evangelischen Kirche an der Aufarbeitung arbeiten. Dort gilt zum Beispiel mittlerweile die Regel, dass jeder Beschluss der evangelischen Kirche, jeder Beschluss der Synode der EKD und des Rates der EKD, der sich mit dem Thema Missbrauch beschäftigt, vorher vom Beteiligungsforum beschlossen sein muss, sodass die Betroffenen da tatsächlich ein Vetorecht gegen kirchliche Beschlüsse haben.
„So wie die katholische Kirche spezifische Ursachen hat, gibt es vermutlich auch spezifisch evangelische Ursachen.“
Frage: Auf katholischer Seite haben wir 2018 die große MHG-Studie gehabt, die unter anderem dargelegt hat, dass ein großer Grund für sexualisierte Gewalt, Zölibat, Selbstbild und männerbündisches Verhalten sind. Alles das gibt es ja in der Form auf evangelischer Seite nicht.
Lassiwe: Sexuellen Missbrauch gibt es auch im Sport. Es gibt ihn auch in den Familien. Es gibt ihn an Schulen. Streng genommen giht es ihn überall da, wo Kinder und Jugendliche sind. Zölibat und männerbündische Strukturen gibt es sicherlich nicht an staatlichen Schulen. Trotzdem findet dort Missbrauch statt. Es gibt ihn auch nicht in den Familien. Und trotzdem findet dort Missbrauch statt. Deswegen ist das eine spezifisch katholische Ursache. Aber es kann nicht die einzige Ursache für sexuellen Missbrauch sein.
So wie die katholische Kirche spezifische Ursachen hat, gibt es vermutlich auch spezifisch evangelische Ursachen. Es war mal im Zusammenhang der Missbrauchsfälle in Ahrensburg in Schleswig-Holstein die Rede davon, dass in der evangelischen Kirche klare Verantwortlichkeiten und Strukturen fehlten und man Leute einfach machen ließ. Mag sein, dass so eine lange Geschichte dann auch kommen wird, wenn jetzt die ForuM-Studie, die nun in Hannover vorgestellt wird, die Hintergründe des Missbrauchs aufdeckt.
Frage: Die MHG-Studie hat auf katholischer Seite im Herbst 2018 eine regelrechte Implosion ausgelöst. Danach ist das Vertrauen in die Kirche im freien Fall gewesen. Auf der anderen Seite war es aber auch der Anlass für den Reformversuch des Synodalen Wegs. Erwarten Sie einen ähnlichen Effekt auch auf evangelischer Seite?
Lassiwe: Ich würde schon sagen, es wird noch mal einen wahrnehmbaren Knall geben. Ich glaube aber, dass die Implosion und das Zusammenbrechen, das wir auf katholischer Seite an manchen Stellen erlebt haben, heute auf evangelischer Seite nicht mehr zu erwarten sind. Die MHG-Studie stand dichter am Anfang der Missbrauchsaufarbeitung bei den Katholiken. Nach der MHG-Studie sind viele Institutionen geschaffen worden und viele Wege der Aufarbeitung neu gegangen worden.
Auf evangelischer Seite ist man an vielen Stellen zwar ein Stück weit hinterhergegangen, aber man ist doch auch mitgegangen. Das heißt, man ist auf dem Pfad der Aufarbeitung heute schon weiter, als die Katholiken zum Zeitpunkt der MHG-Studie. Deswegen nehme ich an, es wird Schockwellen geben, die sichtbar werden. Ich nehme aber auch an, es ist nicht mehr die ganz große Implosion.