Präses der EKD-Synode im Interview zur Missbrauchsuntersuchung

Heinrich zur "ForuM"-Studie: Wir haben noch einen weiten Weg vor uns

Veröffentlicht am 08.03.2024 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Berlin/Hannover ‐ Vor gut einem Monat wurde die Missbrauchsstudie für die evangelische Kirche in Deutschland vorgelegt. Seither hat man nicht mehr viel davon gehört. Im katholisch.de-Interview spricht EKD-Synoden-Präses Anna-Nicole Heinrich über die Reaktionen auf die Studie und die geplante weitere Aufarbeitung.

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Am 25. Januar wurde die große Untersuchung zum sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche und der Diakonie in Deutschland veröffentlicht. Seither aber, so zumindest der Eindruck vieler Beobachter, ist öffentlich nicht mehr viel von der Studie zu hören und zu lesen gewesen. Wie geht es mit der Missbrauchsaufarbeitung in der evangelischen Kirche also weiter? Welche Konsequenzen sind bis wann zu erwarten? Über diese und weitere Fragen spricht die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Anna-Nicole Heinrich, im Interview mit katholisch.de.

Frage: Frau Heinrich, Ende Januar wurde die "ForuM"-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche veröffentlicht. Welche Gefühle hatten Sie dabei?

Heinrich: Die Studie wurde nicht unerwartet veröffentlicht. Überraschung ist daher nicht die Haltung, mit der ich die Studie lese und diskutiere. Natürlich bewegen mich die Befunde der Studie und vor allem die Schicksale der Betroffenen. So viele Menschen haben in unserer Kirche Unrecht erfahren – und das nicht nur durch die Taten selbst, sondern auch durch verheerenden Umgang unserer Kirche mit diesen Taten.

Frage: Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Studie haben viele prominente Vertreter Ihrer Kirche zu den Ergebnissen Stellung bezogen und große Betroffenheit geäußert. Von Ihnen hat man öffentlich dagegen nichts gehört. Warum nicht?

Heinrich: Mir ging es vor allem darum, die "ForuM"-Studie nach der Veröffentlichung zunächst vollständig durchzuarbeiten und mich bestmöglich auf die erste Sitzung des Beteiligungsforums Mitte Februar vorzubereiten. Denn dort gehen wir gemeinsam die Handlungsempfehlungen der Studie durch und entwickeln daraus in den kommenden Monaten einen Maßnahmenplan.

„Wir müssen auf allen Ebenen unserer Kirche über die Ergebnisse der Untersuchung und die notwendigen Konsequenzen sprechen – bis hin in die letzte Gemeinde. Und da haben wir noch einen weiten Weg vor uns.“

—  Zitat: Anna-Nicole Heinrich

Frage: Hat die Untersuchung Ihren Blick auf Ihre Kirche verändert?

Heinrich: Es ist ja nicht so, dass die Beschäftigung mit sexualisierter Gewalt in unserer Kirche erst mit der Veröffentlichung der "ForuM"-Studie begonnen hätte. Dass es bei uns zu Taten sexualisierter Gewalt gekommen ist, war schon länger klar. Genau deshalb wurde die Studie ja erst initiiert, weil die evangelische Kirche die für sie spezifischen Risikofaktoren besser verstehen wollte. Ich hoffe aber, dass durch die Studie jetzt auch der und die Letzte in unserer Kirche versteht, dass es sich bei Taten sexualisierter Gewalt eben nicht um Einzelfälle handelt. Wir müssen auf allen Ebenen unserer Kirche über die Ergebnisse der Untersuchung und die notwendigen Konsequenzen sprechen – bis hin in die letzte Gemeinde. Und da haben wir noch einen weiten Weg vor uns, denn bei vielen Gesprächen in den vergangenen Wochen ist mir schmerzlich bewusst geworden, dass dies noch lange nicht der Fall ist. Wir haben als evangelische Kirche die Verantwortung, bei der Aufarbeitung noch stärker ins Handeln zu kommen und größere Sprachräume zu öffnen – und das eben nicht nur auf der Ebene der EKD. Wir müssen einen Kulturwandel vollziehen, der an vielen Stellen wahrscheinlich noch gar nicht begonnen hat.

Frage: Lange haben viele in der evangelischen Kirche geglaubt, dass Missbrauch vor allem ein katholisches Problem sei und seine Ursachen im Zölibat, klerikalen Machtstrukturen und einer strengen Sexualmoral habe – also Faktoren, die es so in der evangelischen Kirche nicht gibt. Die "ForuM"-Studie hat diese Illusion zerstört und gleichsam evangelische Begünstigungsfaktoren für Missbrauch aufgezeigt. Wie sehr hat Sie das überrascht?

Heinrich: Es war, wie gesagt, das Ziel der Studie und der Auftrag der Synode von 2018, spezifische Risikofaktoren für die evangelische Kirche herauszuarbeiten. Ich persönlich war nie der Überzeugung, dass bei uns etwa aufgrund der Tatsache, dass es keinen Zölibat gibt, sexualisierte Gewalt nicht stattfinden kann. Und ich kenne auch niemanden in unserer Kirche, der sich ernsthaft mit der Thematik befasst und dieses Narrativ vertreten würde.

Frage: Die Studie ist – zumindest was die Medien und die weitere Öffentlichkeit angeht – überraschend schnell wieder ad acta gelegt worden. Was denken Sie, woran liegt das? Ist die Gesellschaft in Sachen Missbrauch nach der jahrelangen Beschäftigung mit den Verbrechen in der katholischen Kirche inzwischen abgestumpft?

Heinrich: Darüber möchte ich nicht spekulieren. Ich kann nur sagen, dass ganz unabhängig von der öffentlichen Wahrnehmung bei uns in der evangelischen Kirche das Thema Aufmerksamkeit erfahren muss, ungeachtet dessen, dass bereits jetzt intensiver als je zuvor an der Thematik gearbeitet wird. Gerade im Beteiligungsforum und in dessen Arbeitsgruppen wird derzeit alle Energie daran gesetzt, schnellstmöglich, aber mit der gebotenen Sorgfalt einen konkreten Maßnahmenplan zu entwickeln, den wir dann auch in die Gemeinschaft der Gliedkirchen geben können.

Bild: ©KNA/Daniel Pilar

Die Missbrauchsstudie für die evangelische Kirche in Deutschland wurde am 25. Januar 2024 in Hannover vorgestellt.

Frage: Sie sprechen von einer hohen Aufmerksamkeit für die Studie in Ihrer Kirche – von größeren Debatten oder gar Reformforderungen hat man öffentlich bislang aber so gut wie nichts gehört ...

Heinrich: Das sehe ich anders. Die Studie, so erlebe ich es jedenfalls, war für viele ein Wachrüttler, sich jetzt sehr intensiv mit den Ergebnissen und den notwendigen Konsequenzen auseinanderzusetzen. In Kirchenkreisen und Gemeinden gab es bereits erste Veranstaltungen zur Studie. In einer evangelischen Akademie wurde mit einem beteiligten Forscher die Studie diskutiert. Und auch in den Frühjahrstagungen der Landessynoden werden die Studie und ihre Befunde zur Sprache kommen, wie in der Nordkirche Ende Februar bereits geschehen. Ich erwarte bis zum Ende des Jahres auf allen Ebenen unserer Kirche noch mehr Formate, in denen die Studie, ihre Befunde und daraus folgende Konsequenzen diskutiert werden.

Frage: Zuletzt gab es eine Diskussion über die Frage, ob angesichts der verheerenden Ergebnisse eine Sondertagung der EKD-Synode angezeigt sei. Sie haben das abgelehnt. Aber wäre eine solche Tagung als Signal an die Öffentlichkeit nicht eigentlich angemessen gewesen? Eine Sondertagung der Synode hätte jedenfalls vermutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen als die Arbeit des Beteiligungsforums.

Heinrich: Das hoffe ich nicht, denn noch einmal: Das Beteiligungsforum ist für uns der zentrale Ort, wo Betroffenenvertreter*innen gemeinsam mit beauftragten Personen über die Ergebnisse der "ForuM"-Studie diskutieren und für die Synode im November konkrete Maßnahmen vorschlagen sollen. Eine Sondertagung zum jetzigen Zeitpunkt wäre nicht zielführend. Das Beteiligungsforum wird die Zeit bis November nutzen, um so schnell wie möglich und so sorgfältig wie nötig die nächsten Aufarbeitungsschritte vorzuschlagen. Und eine Tagung nur deshalb zu veranstalten, um gegenüber der Öffentlichkeit kommunikativ in die Offensive zu kommen, hielte ich für falsch. Es muss jetzt um konkrete Schritte für flächendeckende und einheitliche Prävention, Intervention und Aufarbeitung gehen. Und die diskutieren wir sorgfältig zunächst im Beteiligungsforum unter Beteiligung von Betroffenenvertreter*innen.

Frage: Sie haben es bereits angedeutet: Das Beteiligungsforum hat Mitte Februar das erste Mal über die Ergebnisse und Empfehlungen der Studie gesprochen. Was ist dabei konkret herausgekommen?

Heinrich: Die Betroffenenvertreter*innen und die Beauftragten aus Kirche und Diakonie haben sich im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt mit den 46 Handlungsempfehlungen der Forschenden beschäftigt. Daraus folgte ein klarer Zeitplan für die Entwicklung von geeigneten Maßnahmen, die im November der Synode der EKD zur Abstimmung vorgelegt werden. Diesen Prozess der Diskussion der Befunde und der Maßnahmenableitung werden wir über das ganze Jahr fortsetzen, auch unter Beteiligung der weiteren kirchenleitenden Gremien. Gerade arbeiten Arbeitsgruppen im Beteiligungsforum etwa bereits an einer Reform des kirchlichen Disziplinarrechts und an der Vereinheitlichung von Anerkennungsverfahren.

„Für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in unseren Kirchen wird es keinen Endpunkt geben.“

—  Zitat: Anna-Nicole Heinrich

Frage: Und wie haben Sie die Stimmung im Beteiligungsforum wahrgenommen?

Heinrich: Man hat deutlich gemerkt, dass das für alle gerade richtig anstrengende Wochen sind. Allein die Studie wirklich in Gänze wahrzunehmen und gleichzeitig unter den vielen öffentlichen Anfragen den Fokus darauf zu behalten, in einen guten Arbeitsmodus zu kommen – das ist schon eine Situation, die von allen Beteiligten gerade viel Energie fordert. Vor allem natürlich von denjenigen, die in den vergangenen Wochen besonders im Fokus der Öffentlichkeit standen, also den Sprecher*innen der Betroffenenvertretung. Für Nancy Janz und Detlev Zander ist das sicher nochmal eine ganz besondere Belastung, die nicht hoch genug zu würdigen ist. Dass sie sich als Betroffene so in den Dienst der Sache stellen und an Maßnahmen mitarbeiten, dass Menschen in Kirche und Diakonie vor sexualisierter Gewalt besser geschützt werden und Aufarbeitung und Anerkennung einheitlich erfolgt, davor habe ich großen Respekt und dafür bin ich sehr dankbar.

Frage: Sie haben es gesagt: Das erste Ziel ist die Synode im November; bis dahin sollen erste konkrete Maßnahmen als Konsequenz aus der "ForuM"-Studie vorgeschlagen werden. Aber wie wird es danach weitergehen? Welcher zeitliche Horizont schwebt Ihnen insgesamt für die weitere Aufarbeitung vor?

Heinrich: Für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in unseren Kirchen wird es keinen Endpunkt geben. Und das darf es auch nicht. Insofern hat auch die Struktur, die wir uns mit dem Beteiligungsforum als wichtigstem Baustein für die Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Thema gegeben haben, kein zeitliches Ende. In den Landeskirchen werden die unabhängigen regionalen Aufarbeitungskommissionen zeitnah ihre Arbeit aufnehmen und sich dauerhaft mit der Aufarbeitungspraxis beschäftigen. Selbst wenn es irgendwann in jeder Gemeinde in der gesamten EKD ein Präventionskonzept gibt, wird es auf der Grundlage neuer Erkenntnisse immer die Notwendigkeit geben, diese Konzepte zu überarbeiten und hoffentlich noch besser zu machen. Man muss sich klar machen: die Beschäftigung mit diesem Thema bleibt eine Daueraufgabe, die nie abgeschlossen sein wird.

Frage: Bei allen Schwächen der katholischen Aufarbeitung: Gibt es etwas, dass Sie diesbezüglich trotzdem von der katholischen Kirche lernen können?

Heinrich: Als evangelische Kirche haben wir den weiteren Weg der Aufarbeitung zu gehen, erstmal ganz unabhängig von der katholischen Kirche. Ich kann nur sagen, was mir dabei besonders wichtig ist – und das ist ein offener Umgang mit dem Thema, auch mit den Fehlern, die wir gemacht haben, und eine Stärkung der Perspektive der Betroffenen. Ich möchte, dass die Grundhaltung sichtbar wird, dass der Schutz vor sexualisierter Gewalt an allen Stellen, von der Leitungsebene bis zum Kirchenvorsteher, vom Kirchenamt bis zur Gemeindefreizeit, Priorität hat.

Von Steffen Zimmermann