Klerikalismus ohne Klerus und andere evangelische Risikofaktoren
Für die evangelische Kirche war sexualisierte Gewalt lange kein Thema. Während für die katholische Kirche in Deutschland die Offenlegung des Missbrauchs am Berliner Canisius-Kolleg 2010 die Initialzündung für eine ernsthafte Befassung damit war, macht die am Donnerstag vorgestellte Forum-Studie das Jahr 2018 als Scheidemarke für die evangelische Kirche aus. Vorher sei in der Regel sexualisierte Gewalt nicht als eigenes Thema der evangelischen Kirche aufgegriffen worden, danach oftmals nur verhalten und selektiv, stellen die Forscher fest.
Immer wieder scheinen Kirchen den Fehler zu machen, den der mittlerweile aufgrund seiner eigenen massiven Vertuschung diskreditierte ehemalige Mainzer Bischof und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Kardinal Karl Lehmann, 2002 ins Wort gebracht hat: "Warum soll ich mir diesen Schuh der Amerikaner anziehen, wenn er mir nicht passt?", sagte er damals im Spiegel-Interview, als er auf die Enthüllungen von Missbrauch in den USA angesprochen wurde. Missbrauch? Kann es bei uns nicht geben.
Die Ergebnisse der umfangreichen evangelischen Missbrauchsstudie sind vielfältig. Bei weitem nicht alle überraschen: Die besondere Macht und Autorität von Pfarrerinnen und Pfarrern (die meisten Täter sind männliche Pfarrer), und das trotz eines eigentlich deutlich egalitäreren Amtsverständnisses als in der katholischen Kirche. Massive Defizite in der Aktenführung: Die Studie spricht von inoffiziell geführten Handakten und Kisten mit problematischen Inhalten, die teils nur zufällig gefunden wurden. Häufige Versetzungen von Missbrauchsbeschuldigten, auch in andere Landeskirchen. Die Mitverantwortung von Gemeinden, die den guten Schein nicht trüben wollen – ausführlich hat die katholische Münsteraner Missbrauchsstudie schon diese Dynamiken in katholischen Pfarreien geschildert. Betroffenen wurde nicht geglaubt, im Umgang mit Fällen war Diskretion das höchste Gebot. "Der Fokus des institutionellen wie organisationalen Handelns dient eher einer Beruhigung der Situation", fassen die Forscher zusammen. Von "Harmoniezwang und Konfliktunfähigkeit im Milieu der Geschwisterlichkeit" war auf der Pressekonferenz die Rede. Betroffene mussten lange um ihre Rechte oder auch nur um Gehör kämpfen: "Evangelische Kirche und Diakonie haben sich fast nie als soziale Systeme präsentiert, in denen Betroffene Unterstützung bei der Aufdeckung sexualisierter Gewalt erfuhren."
Wenig gelernt aus der Missbrauchsaufarbeitung anderswo
Anscheinend wurde wenig institutionell gelernt. Nicht von den vielen Fehlern der katholischen Kirche, nichts von guten Entwicklungen. Teilweise wurden erst ab 2021 für die Prävention zuständige Studien auf Landeskirchenebene eingerichtet. Die Forscher stellen eine Externalisierung von Gründen und Verantwortung fest: Sexualisierte Gewalt wurde etwa als katholisches Problem gesehen mit spezifisch katholischen Ermöglichungsbedingungen wie Zölibat, rigider Sexualmoral und hierarchischer Struktur, die es in der evangelischen Kirche nicht in dieser Form gibt. Oder aber als gesamtgesellschaftliches Phänomen, das die Kirche nicht spezifisch betrifft, sondern nur insofern sie Teil der Gesellschaft ist. Den Schuh wollte man sich nicht anziehen.
Immer wieder verwies die amtierende Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs auf die Probleme des föderalen Aufbaus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), in der die EKD sich zwar seit geraumer Zeit selbst als eine Kirche versteht, die Landeskirchen aber weitgehende organisatorische Freiheit haben. Damit unterscheidet sich die Situation von katholischer und evangelischer Kirche trotz deutlich unterschiedlichem ekklesiologischen Selbstbild wenig: Die katholische Kirche steht durch ihre starke Betonung der Stellung des Ortsbischofs und der Bischofskonferenz, die kaum eigene Kompetenzen hat, mit ihren Strukturen vor ähnlichen Problemen. Unwillkürlich fühlt man sich fünf Jahre zurück versetzt zur Vorstellung der MHG-Studie und der ersten Debatte über die Untersuchung, die ebenfalls ganz Deutschland abdecken sollte, im Ergebnis aber mit Blick auf die Lage und die konkrete Verantwortung in den einzelnen Bistümern nicht zufriedenstellen konnte. Das Ergebnis ist die Vielzahl an diözesanen Studien, die seither erschienen sind oder noch ausgearbeitet werden. In den Landeskirchen dürften nun ähnliche Forderungen nach Detailstudien anstehen – zumal ihnen von den Forschenden kein gutes Zeugnis ausgestellt wurde.
Zwar betonten die Wissenschaftler bei der Vorstellung der Studie, dass alle Landeskirchen kooperiert haben. Es habe keine Verweigerung gegeben, wohl aber eine schleppende Zuarbeit, berichtete der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing, der bereits an der MHG-Studie mitgearbeitet hatte. Fehrs entschuldigte die Landeskirchen, die keine Personalakten zur Auswertung eingebracht hatten – alle bis auf eine kleine, die nicht benannt wurde –, mit einer Überforderung. Dass schließlich nur Disziplinarakten in die Studie einfließen konnten, sei kein "bewusstes Nichtwollen, sondern ein unglückliches Nichtkönnen", sagte Fehrs. Es war Dreßing, der klarstellen musste, dass die Forschergruppe keine möglicherweise übertriebenen Wünsche gegenüber den Landeskirchen geäußert habe, sondern dass sich die EKD auf ein klar definiertes Forschungsdesign festgelegthatte, in dem auch eine Auswertung der Personalakten vorgesehen war.
Diskrepanz zwischen Selbstverständnis und Strukturen
Das Forschungsdesign beschränkte sich aber nicht nur auf eine quantitative Auswertung zur Bezifferung der Fälle. Mit Betroffeneninterviews, Diskursanalysen, zeitgeschichtlicher Forschung konnten systemische Ursachen und Ermöglichungsbedingungen für Missbrauch freigelegt werden. Eine zentrale Erkenntnis vieler Missbrauchsstudien wird auch hier wieder bekräftigt: Macht und Machtmissbrauch sind ein zentrales systemisches Risiko für Missbrauch. Spezifisch evangelisch wird dieses Risiko, wo eine ideale Selbstbeschreibung tatsächliche Machtverhältnisse verschleiert. Aus dem katholischen Bereich kennt man das Leugnen von Macht, indem Macht als Dienen und bloße stellvertretende Ausübung von Vollmacht beschrieben wird. Im evangelischen Bereich findet diese Kaschierung von Macht anders statt: Ein – bisweilen bewusst im Gegensatz zur katholischen Kirche formuliertes – Selbstverständnis als "grundlegend partizipativ, hierarchiearm und progressiv" erzeugt die Gefahr einer fehlenden Reflexion von Machtstrukturen, stellen die Forscher fest: "Gleichzeitig berichten sowohl Betroffene als auch Kirchenvertreter:innen von einer Diskrepanz zwischen einem idealisierten Selbstverständnis und tatsächlichen Strukturen beziehungsweise Handlungspraxen." Mit das Frappierendste dabei: Die Kirche sieht sich als Seelsorgerin, als Moderatorin, sie will zuhören und helfen – aber sie sieht sich nie als Täterorganisation. Das geht nach Ansicht der Studienautoren bis dahin, dass Betroffene in gute (weil systemdienliche) und schlechte (weil zu anstregend, zu gefährlich, zu fordernd) aufgeteilt werden.
In der MHG-Studie wurde Klerikalismus als systemische Ursache identifiziert. Der Kurzschluss, dass es ohne Klerus keinen Klerikalismus gibt, ist unzulässig. Auch evangelische Pfarrer haben eine herausgehobene Position: "Es lässt sich eine weitreichende Pastoralmacht feststellen, die begünstigend mit der Ausübung von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in Verbindung steht", so die Studie. Als Seelsorger und aufgrund der ihnen qua Ausbildung zugesprochenen theologischen Deutungskompetenz haben auch evangelische Pfarrer bei einem egalitären, nichtklerikalen Selbstverständnis ein hohes Maß an Macht. "Aufgrund fehlender Selbstreflexion und mangels externer Korrektive wurde diese qua Status verliehene Macht manipulativ eingesetzt", analysiert die Studie und kann damit erklären, warum trotz der Einbeziehung aller Berufsgruppen in die Analyse – die MHG-Studie hatte ausdrücklich nur Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Blick – der Anteil der Pfarrer an den Beschuldigten so hoch ist: 40,7 Prozent der 1.259 Beschuldigten, in 87,1 Prozent der Fälle erfolgte die erste sexualisierte Gewalttat gegen Minderjährige nach der Ordination, also zu einem Zeitpunkt, an dem das Potential für den Missbrauch von Pastoralmacht bestand.
Auf vielen Feldern findet die Studie eine klare Unterscheidung zwischen Innen- und Außengruppe: In Gemeinden und Institutionen wie Kitas werden Betroffene und andere, die sich mit ihnen solidarisieren, als störend empfunden. Im Umgang mit Betroffenen wird in Konstruktive und Störer unterschieden. "Betroffene werden nicht als der evangelischen Gemeinschaft zugehörige wissende Subjekte anerkannt, sondern als Gruppe markiert, die der Kirche und Diakonie gegenübersteht." Institutionen und Risikostrukturen werden nicht reflektiert, Fälle "abgearbeitet", aber nicht aufgearbeitet, stellen die Forscher fest: "Dies drückt sich durch die im empirischen Material zu findenden starken Ausprägungen von Nichtglauben, Schuldumkehr und sexualisierte Gewalt betreffender Mythenstabilisierung aus."
Zu schnell von Schuld zu Vergebung
Die Differenz zwischen kirchlicher Innengruppe und den den Zusammenhalt bedrohenden Außenstehenden oder aus der Innengruppe ausgeschlossenen sehen die Forschenden als Konsequenz eines spezifisch evangelischen Selbstbildes. Betroffene charakterisieren die evangelische Kirche als stark von sich selbst überzeugt: "Sie berichten von einem evangelischen Modus der Selbstüberhöhung, der implizit oder explizit ein 'Besser-Sein' im Vergleich zu anderen Glaubensrichtungen suggeriert." In dieses Selbstbild passt Missbrauch nun einmal nicht. Was nicht sein kann, darf dann auch nicht wahr sein. Es herrsche eine "Kultur der Konfliktvermeidung", Betroffene berichten von unklaren Nähe- und Distanzverhältnissen und fehlenden Grenzen im Umgang miteinander.
Zur fehlenden Reflexion von Macht und der Konstruktion einer idealen Gemeinschaft kommen auch genuin in der evangelischen Theologie verortete Muster dazu. Ausdrücklich wird die Rechtfertigungslehre, dogmatischer Kernbestand der protestantischen Kirchen, als prägend für das Verständnis sowohl auf Leitungsebene wie bei Gemeindemitgliedern identifiziert. Wenn Menschen nur durch die Gnade Gottes das Heil erlangen, schränkt das spiegelbildlich die Bedeutung von menschlichen Werken ein. Laut den Forschern führt das zur Annahme eines Automatismus, der von Schuld zu Vergebung führt unter Überspringen von Reue und Wiedergutmachung, gerade im Umgang mit Betroffenen: "Betroffene werden mit Wünschen nach Vergebung der sexualisierten Gewalt konfrontiert, bevor eine angemessene Auseinandersetzung mit der Schuld umgesetzt wurde; Schuld als nicht prinzipiell auflösbarer Zustand kann offenbar im evangelischen Selbstverständnis nicht ausgehalten werden."
Die MHG-Studie hatte die katholische Sexualmoral und den Umgang mit Sexualität vor allem in der Priesterausbildung als systemischen Risikofaktor identifiziert. Auch die Forum-Studie problematisiert die Sexualmoral. Berichte von Betroffenen verweisen laut den Forschern auf ein "inkonsistentes und verwirrendes Sexualitätsverständnis der evangelischen Kirche", das in verschiedenen Phasen "zwischen Tabuisierung und Entgrenzung oszilliert und einen selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Sexualität vor allem für Kinder und Jugendliche erheblich erschwert". So verschieden die Zugänge zu Sexualität in den beiden Kirchen sind: Gemeinsam sind bei diesem Risikofaktor vor allem die fehlende Reflexion und Sprachfähigkeit.
Ökumenische Lernprozesse – nicht nur zwischen evangelisch und katholisch
Die Forum-Studie hat für die evangelische Kirche spezifische Risikofaktoren und Ermöglichungsbedingungen freigelegt. Doch auch wenn diese Faktoren spezifisch für die evangelische Kirche sind: Die Parallelen zu den Risikofaktoren und Dynamiken, die katholische Missbrauchsstudien in den vergangenen Jahren ans Licht gebracht haben, sind deutlich. Wenn eine besondere Prägekraft der Rechtfertigungslehre angeführt wird, heißt das nicht, dass ähnlich schädliche Abkürzungen zur Forderung nach Vergeben und Verzeihen nicht auch in katholischen Kontexten vorliegen würden. Und umgekehrt: Wenn Klerikalismus als Risiko ausgemacht wird, hilft anscheinend auch eine nichtklerikale Theologie des Amtes nicht weiter.
Die Rede von spezifisch evangelischen Risikofaktoren bedeutet zudem nicht, dass es ausschließlich evangelische Risikofaktoren wären. Ein zentrales Problem, das die Forum-Studie ans Licht bringt, ist gerade eine zu starke Konfessionalisierung des Problems, die sich darin zeigt, dass in Abgrenzung zur als natürlich missbrauchsrisikoaffin wahrgenommenen katholischen Kirche die eigene Kirche überhöht und das Problem des Missbrauchs nicht als systemisch erkannt wird. In der Folge greift man nicht auf Lösungsstrategien – so unvollkommen sie sein mögen – zurück, die andere Kirchen schon eingeschlagen haben, und verschleppt Prozesse der Aufarbeitung und Prävention. Und auch diese Diagnose darf nicht konfessionalisiert werden: In der katholischen Kirche zeigen sich dieselben Wahrnehmungsstörungen. Nicht nur Lehmann hat früher Missbrauch als etwas spezifisch Amerikanisches abgetan, und noch heute gibt es in der katholischen Kirche Tendenzen, nur dort Missbrauch zu thematisieren, wo er nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Darin herrscht große ökumenische Einheit - leider.
Die Forum-Studie im Volltext
Der über 800 Seite lange Abschlussbericht des Forschungsverbunds "Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland" (ForuM) ist online verfügbar.
Außerdem stellen die Forschenden eine kürzere Zusammenfassung der Studie zur Verfügung.