Digitalisierung in der Gemeinde ist kein Selbstzweck – aber wichtig
In der Corona-Pandemie haben plötzlich viele digitale Werkzeuge in den Gemeinde-Alltag Einzug gehalten. Online-Gottesdienste und Videokonferenzen haben einen hohen Stellenwert bekommen. Was ist von diesem erzwungenen Digitalisierungsschub geblieben? Sind die Gemeinden nun fit für die digitale Welt? Zwei Experten für digitale Kirche sehen noch viel Luft nach oben. Mit einem Praxishandbuch wollen Hanno Terbuyken und Philipp Greifenstein Lust auf Digitalisierung machen. Im Interview mit katholisch.de spricht Terbuyken über erste Schritte, was Gemeinden wirklich brauchen – und warum es nicht immer die aufregendste neue Technik sein muss.
Frage: Wie ist der Stand der Digitalisierung in der Kirche nach der Corona-Pandemie?
Hanno Terbuyken: Viele haben vieles gelernt, aber viele haben leider hinterher auch vieles wieder vergessen. Die Pandemie war ein wichtiger Digitalisierungsschub, aber sehr unstrategisch und aus der Not geboren.
Frage: Was wurde denn wieder vergessen?
Terbuyken: In der Corona-Zeit haben die Leute angepackt, die die nötigen Kenntnisse hatten, aber oft fehlt es daran, die dabei erworbenen Fähigkeiten für die Gemeinde dauerhaft zu sichern. In den meisten Gemeinden gab es Online-Gottesdienst-Formate. Die wurden oft einfach aufgegeben, als die akute Corona-Gefahr weg war, obwohl es heute immer noch Bedarf dafür gibt. Und manche können gar nichts vergessen, weil sie nie gemerkt haben, wie wichtig digitale Angebote sind: Ich habe bei einer Veranstaltung mit evangelischen Kirchenvorständen einmal zwei ältere Leute getroffen, die mir ganz fröhlich erzählt haben, dass ihre Gemeinde immer noch keine Webseite hat. Das sei einfach zu kompliziert. Da hat selbst die Corona-Zeit nicht dazu animiert, die fundamentalen Grundlagen der Digitalisierung einer Gemeinde zu erledigen.
Zur Person
Hanno Terbuyken ist Country Manager DACH bei dem Kirchensoftware-Dienstleister ChurchDesk. Zuvor war er Portalleiter von evangelisch.de. Zusammen mit dem Journalisten Philipp Greifenstein hat er das Praxishandbuch "Vernetzt und zugewandt – digitale Gemeinde gestalten" geschrieben, das im März im Verlag Neukirchener erschienen ist.
Frage: Wie sehen diese Grundlagen aus? Was muss eine Gemeinde mindestens leisten, um in der digitalen Welt gut dazustehen?
Terbuyken: Das Wichtigste ist eine aktuelle Webseite, auf der man herausfinden kann, wo die Gemeinde ist und was dort passiert, und die man auf dem Handy lesen kann. Es braucht auf der Webseite eine zugängliche Kontaktmöglichkeit, die nicht auf die Öffnungszeiten des Pfarrbüros begrenzt ist, und bei der man auch Antworten bekommt, wenn man sie nutzt. Das ist der absolute Mindeststandard. Man sollte denken, dass das alle Gemeinden leisten – tun sie aber nicht. Als nächstes sollte jede Gemeinde mindestens eine Form der aktiven Kontaktaufnahme anbieten, mit der sie nach draußen, zu den Menschen geht.
Frage: Also mehr als nur Inhalte auf der Webseite?
Terbuyken: Genau. Die Webseite ist "Pull-Kommunikation", das müssen Leute aktiv aufsuchen und abrufen, wenn sie etwas wollen. Das ist wie in der analogen Welt: Natürlich kann man denken, es reicht schon, wenn da eine Kirche steht, da werden die Leute schon reingehen. Das ist aber nicht so. Man muss rausgehen, auf die Menschen zu!
Frage: Wer soll das denn jetzt auch noch machen? Die Hauptamtlichen haben jetzt schon so viel zu tun.
Terbuyken: Was heißt denn "auch noch"? Rausgehen und auf die Menschen zugehen ist für die Kirche nicht "auch noch", sondern Kernaufgabe! Jedenfalls dann, wenn wir das Evangelium und den Missionsbefehl Jesu ernst nehmen. Da gibt es keinen Unterschied zwischen analog und digital. Dieses Verständnis gilt es zu wecken, und dann erst klärt man, wer das wie in welchen digitalen Kanälen tut. Es ist natürlich eine berechtigte Frage, wie man das angesichts schwindender Ressourcen und Kirchenmitgliedern leisten kann. In unserem Buch plädieren wir dafür, dass man sich die Kanäle sucht, bei denen man wirklich Lust hat, sie zu bespielen und dort mit anderen in Kontakt zu treten. Niemand muss alles machen, auch keine Gemeinde. Wer mit Instagram fremdelt und gar keine Lust darauf hat, wird dort auch keinen guten Auftritt hinlegen. Aber wir haben in Gemeinden viele Leute, die ihre Talente einbringen und helfen können. Die Gemeinde besteht nicht nur aus Hauptamtlichen.
Frage: Dennoch haben Hauptamtliche eine zentrale Rolle. Was muss ein Pfarrer leisten, um ein guter digitaler Mitbürger zu sein?
Terbuyken: Erst einmal muss das Grundverständnis da sein, dass die meisten Menschen erwarten, dass man irgendwie digital erreichbar ist. Wenn Menschen eine Nachricht schicken, dann erwarten sie eine Antwort. Es reicht nicht, zu senden, es braucht den Rückkanal. Das ist eine Grundhaltung, die alle Pfarrerinnen und Pfarrer fürs Digitale brauchen, das ist viel wichtiger als technische Kenntnisse. Für die Technik kann man Leute finden, die das machen. Webseite, Social Media, Newsletter – dafür gibt es Werkzeuge, und das kann man die Leute machen lassen, die das können und gerne tun. Aber die dialogische Grundhaltung kann man sich nicht einkaufen, die muss man haben.
Frage: Die Kirchen haben sehr formalisierte Entscheidungsstrukturen und klare Hierarchien. Müssen die sich ändern, um so zu arbeiten?
Terbuyken: Die Strukturen haben sich schon geändert, das müssen wir gar nicht mehr tun. Wir müssen nur damit umgehen. Die Digitalisierung bricht Grenzen und Hierarchien an allen Ecken und Enden auf. Auch eine hierarchisch organisierte Kirche muss akzeptieren, dass Menschen eigenständig handeln und nicht immer fragen, ob sie das dürfen. Wenn man das nicht akzeptiert, gehen die Leute eben wieder und engagieren sich da, wo es für sie besser passt. Langwierige Freigabeprozesse, wenn etwa immer der Pfarrer oder der Gemeinderat drüberschauen will, bevor etwas an die Öffentlichkeit geht, passen nicht in die Lebensrealität von Menschen, die selbstverständlich in der Digitalität leben. Da braucht es Vertrauen und ein gemeinsames Ziel statt Kontrolle und klare Anweisungen.
Frage: Was sind denn Beispiele für besonders gelungene Digitalprojekte?
Terbuyken: Es kommt gar nicht darauf an, Leuchttürme zu bauen. Am besten ist es, wenn die Basics stimmen: Eine gute, informative, zugängliche Webseite, ein regelmäßiger und relevanter Newsletter, erreichbar zu sein. Das leisten zum Glück schon ganz viele Gemeinden.
Frage: Und eine Sache, die Sie persönlich begeistert hat?
Terbuyken: Als ich hierher nach Berlin gezogen bin, hat meine evangelische Kirchengemeinde ungefähr drei Jahre gebraucht, um mitzubekommen, dass ich jetzt da bin und zu ihr gehöre. Nach drei Jahren habe ich zum ersten Mal den Gemeindebrief bekommen. Aber auf einmal wurde auf der Webseite der Gemeinde, die ich ab und zu aufrufe, ein Newsletter angekündigt. Den habe ich abonniert, und jetzt bekomme ich regelmäßig alle vier Wochen die aktuellen Nachrichten und Termine meiner Kirchengemeinde. Das hat mich richtig gefreut, dass jetzt plötzlich ein regelmäßiger Kontakt da ist, nachdem drei Jahre Stille war.
Frage: Schon wieder ein ganz einfaches Beispiel – ich hätte gedacht, Sie nennen jetzt etwas ganz Spektakuläres wie den KI-Chatbot, mit dem ich mit Martin Luther reden kann, oder über den perfekten Instagram-Account von einem Pfarrer-Influencer.
Terbuyken: Das gibt es auch. Aber wenn man nur solche Dinge in den Mittelpunkt stellt, überfordern wir uns. Wir können nicht von allen Menschen, die Kirche gestalten, erwarten, dass sie immer die neueste und beeindruckendste Technik nutzen, dass sie immer den Anspruch haben müssen, die Speerspitze der Innovation zu sein. Wir sollten immer unsere Zielgruppe im Blick haben: In Deutschland gibt es fast 40 Millionen Christen, und die wollen doch nicht alle in den experimentellen KI-Gottesdienst beim Kirchentag. Da hat man 400 Leute erreicht. Den KI-Luther bekommen ein paar Tausend Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht mit. Aber das ist doch nicht das, was Menschen in ihrem Alltag von der Kirche brauchen. Darum muss es uns gehen: Wie sind wir offen für Kommunikation, wie unterstützen wir die Menschen, die wissen wollen, wann der nächste Gottesdienst ist, wo sie einen Pfadfinderstamm für ihre Kinder finden, und wie das mit dem Heiraten, Taufen oder Beerdigen funktioniert. Das sind Anliegen, die nicht die Martin-Luther-KI beantwortet, das leistet eine gute Webseite.
Frage: Wie kann ich als Gemeindemitglied Digitalisierung vorantreiben?
Terbuyken: Oft ist gar nicht bekannt, was Gemeindemitglieder eigentlich alles gerne digital erledigen wollen. Und wenn man diese Wünsche nicht gegenüber den Verantwortlichen äußert, kriegen sie es nicht mit. Wenn sich Leute bei Veranstaltungen anmelden würden, wenn sie das einfach über ein Online-Formular machen könnten, dann kriegt man nicht mit, dass diese Anmeldungen fehlen, sondern sieht nur die, die telefonisch oder auf dem Papierformular im Pfarrbüro landen. Bei der Kollekte sieht man nicht, dass da das Geld von den Leuten fehlt, die kein Kleingeld, sondern nur das Smartphone in der Tasche haben
Frage: Das war der Blick von der Basis auf die Institution. Was muss die Institution, das Bistum oder die Landeskirche, Gemeinden an Infrastruktur anbieten, um gut digital arbeiten zu können?
Terbuyken: Die schon erwähnte Haltung muss ganz oben stehen. Und dazu muss Digitalität in der Ausbildung von pastoralem Personal vorkommen, und zwar nicht nur als kleine Einheit, die man in zwei, drei Tagen abhandelt, sondern als Thema, das sich durchzieht. Ganz praktisch müssen Bistümer und Landeskirche Gemeinden sinnvolle Werkzeuge zur Verfügung stellen, damit nicht jede Gemeinde für ihre Webseite oder ihren Newsletter das Rad neu erfinden muss. Das machen schon viele. Wichtig ist dabei, dass sich solche Werkzeuge nicht an dem ausrichten, was für die obere Ebene wichtig oder praktisch ist, sondern an dem, was den Menschen an der Basis hilft, ihre Arbeit zu machen und Gemeinde zu verwirklichen.
Frage: Und wo stehen wir da?
Terbuyken: In der Kirche will man ganz oft etwas Eigenes machen. Da hat man dann einmal für viel Geld ein System entwickeln lassen, das dann aber irgendwann nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Dann gibt es zwar einen funktionierenden Homepagebaukasten, der aber schwierig zu bedienen ist und bei dem die Ergebnisse einfach nicht mehr zeitgemäß aussehen. Man muss nicht immer alles selbst entwickeln. Man kann auch mal auf bewährte Lösungen aus der Welt greifen. Das ist nicht nur bei Webseiten so, das gilt auch für Kommunikationslösungen.
Frage: Immer wieder kommen Forderungen auf, dass die Kirche einen eigenen Messenger zur Verfügung stellt, weil der Marktführer WhatsApp nicht datenschutzkonform zu betreiben ist.
Terbuyken: Das kann man knicken. Da steckt nicht nur ein riesiger technischer Aufwand dahinter. Es ist auch völlig weltfremd zu glauben, dass man Leute wirklich dazu bringen kann, die kirchliche Insellösung zu verwenden statt den Messenger, den eh alle benutzen. Da nimmt sich die Kirche viel zu wichtig, wenn sie glaubt, dass das geht.
Frage: Das rechtliche Problem besteht aber: Herrschende Meinung ist, dass der führende Messenger schlicht nicht rechtskonform einzusetzen ist, und deshalb verbieten kirchliche Stellen ihren Hauptamtlichen WhatsApp.
Terbuyken: Damit hat man die Frage des Datenschutzes einseitig priorisiert, ohne eine Güterabwägung zu machen: Will man sich eine strenge Rechtsauffassung zu eigen machen, koste es was es wolle, oder will man Leute erreichen? Ich werbe auch für eine realistische Risiko-Analyse: Welcher tatsächliche Schaden entsteht Menschen durch die Erreichbarkeit der Kirche über diese Dienste? Es ist ja nicht so, dass die Kirche Leute dazu verführt, WhatsApp zu nutzen, im Gegenteil: Wir nutzen WhatsApp, weil das alle anderen ohnehin nutzen. Was man aber auf jeden Fall machen sollte, ist immer auch eine Alternative dazu zu bieten. Es ist ja kein Problem, neben dem Messenger, den alle haben, auch noch einen datenschutzkonformen auf dem Handy zu haben.
Frage: Wir haben jetzt über viele Herausforderungen gesprochen, vor der die Kirchen im Digitalen stehen. Wird das alles einfacher, wenn Digital Natives Verantwortung in der Kirche übernehmen?
Terbuyken: Das Alter ist nicht der entscheidende Faktor, ob jemand Digitalität verstanden hat. Bei der Leitung kommt es auf die Haltung an. Die Technik kann man lernen. Aber natürlich ist es auch eine Frage, mit welcher Selbstverständlichkeit man Technik nutzt, und da macht es schon einen Unterschied, in welcher Zeit man aufgewachsen ist. Ich merke das in meiner Arbeit immer beim Wechsel im Amt des Generalvikars. Da ist es schon so, dass die nach 1970 geborenen digitalen Fragen deutlich aufgeschlossener sind, auch wenn es immer Ausnahmen gibt.
Frage: Und ist Konfession auch ein Faktor? Hat da die evangelische Kirche einen Vorsprung? "Die Freiheit eines Christenmenschen" klingt schon sehr digitalaffin.
Terbuyken: Im Buch gehen wir die Frage ökumenisch an, auch wenn beide Autoren evangelisch sind. Alle unsere Ratschläge passen für evangelische wie katholische Gemeinden. In der Theorie ist ein lutherisches Verständnis von Kirche bestimmt einfacher mit den Dynamiken des Digitalen zu verbinden als ein katholisches, in der Praxis stelle ich aber keinen Unterschied fest. Da gibt es hierarchische, pfarrerfixierte evangelische Gemeinden genauso wie dynamische, egalitäre katholische – praktische Haltung, nicht abstrakte Theologie ist das Ausschlaggebende.
Frage: Die Haltung ist da, jetzt geht's ans Tun: Was schlagen Sie Menschen vor, die motiviert sind, ihre Gemeinde zu digitalisieren?
Terbuyken: Der erste Tipp ist einfach "machen, machen, machen". Wenn man eine Idee hat, einfach loslegen und nicht warten, bis sie perfekt ausgearbeitet ist, sondern Schritt für Schritt im Tun verbessern. Der zweite: Menschen fragen, was sie wollen und was sie brauchen, und gut zuhören. Und der dritte: Technik nicht mit Inhalten verwechseln. Technik ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug, um die Ziele einer Gemeinde zu erreichen.