Kohlgraf: "Verstehe jetzt besser, warum Rom in Habachtstellung ist"
Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf glaubt nicht, dass die Kirche in Deutschland so dramatisch an Bedeutung verliert wie in den Niederlanden. Der deutsche Synodale Weg habe allerdings dieselben Themen wie der niederländische Reformkurs, der 1970 von Rom gestoppt wurde, sagt Kohlgraf im Interview. Die von ihm geleitete Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz hat vor einer Woche eine Reise in die Niederlande beendet.
Frage: Die katholische Kirche spielt in den Niederlanden kaum noch eine Rolle. Sehen Sie da Parallelen zu Deutschland?
Kohlgraf: Wir haben uns sehr stark mit dem Rückblick in die jüngere Kirchengeschichte befasst. Die Niederländer haben sich in ihrem Pastoralkonzil 1970 mit genau den Themen beschäftigt, die heute auch beim Synodalen Weg in Deutschland auf dem Tisch liegen. Es ging um das Verhältnis der Kirche zur modernen Welt, um Demokratie in der Kirche, um Sexualmoral und den Zölibat. Damals entstand der holländische Katechismus, der von den Wirklichkeitserfahrungen der Menschen ausging und von dort her versucht hat, die kirchliche Lehre zu entwickeln. Rom hat diesen Prozess aber abgebrochen.
Frage: Mit welchen Folgen?
Kohlgraf: In Holland gibt es, so denke ich, zwei unterschiedliche Deutungen. Die eine Seite sagt: "Ohne ein Eingreifen des Vatikans wäre es noch schlimmer mit der Säkularisierung und der Verabschiedung von der Kirche gekommen. Wenn die Liberalen sich durchgesetzt hätten, hätte die Kirche nichts Widerständiges mehr zur Gesellschaft." Die andere Sichtweise besagt: "Rom hat mit seinem kommunikativen Versagen viele Menschen aus der katholischen Kirche getrieben und damit die Säkularisierungsprozesse gefördert."
Frage: Welcher Meinung sind Sie?
Kohlgraf: Ich würde sagen: Das war ein kommunikatives Desaster. Dadurch entstanden tatsächlich Traumata und Verwundungen bei vielen Menschen. Mit der Folge, dass der liberale Katholizismus in den Niederlanden nicht mehr stilbildend ist.
Frage: Was bedeutet das für den aktuellen Konflikt zwischen der Kirche in Deutschland und dem Vatikan um den Reformprozess Synodaler Weg?
Kohlgraf: Ich verstehe jetzt besser, warum Rom in Habachtstellung ist. Weil es genau dieselben Themen sind und eigentlich genau dieselbe Situation ist wie damals. Ich kann nur hoffen, und da setze ich auch auf die Gespräche zwischen deutschen Bischöfen und Rom, dass wir jetzt eine andere Form der Kommunikation und des römischen Einschreitens erleben werden. Es wird natürlich Auswirkungen darauf haben, ob auch in Deutschland sich noch mehr Menschen enttäuscht von der Kirche verabschieden oder nicht.
Frage: Wenn es so weitergeht wie bisher: Ist die Kirche in Deutschland in 20 Jahren dann dort, wo sie in den Niederlanden jetzt schon ist?
Kohlgraf: Ich glaube es noch nicht so ganz, denn die Mentalität der Niederländer ist eine andere. Die Niederländer sind ein Volk, das mit Traditionen und Geschichtsbewusstsein wenig anfangen kann. Es geht um ein Leben im Hier und Jetzt. Hinzu kommt ein ausgeprägter Individualismus, der auch etwas mit dem Calvinismus zu tun hat, der in den Niederlanden vorherrschend war. Er geht ja davon aus, dass es ein Zeichen für göttlichen Segen ist, wenn ich aus meinem Leben etwas Erfolgreiches mache.
Frage: Die Deutschen leben weniger im Hier und Jetzt?
Kohlgraf: In Deutschland erlebe ich noch ein starkes Bewusstsein dafür, dass wir auch aus einer Geschichte herkommen. Dass wir also nicht alles über Bord werfen, was mal war und was auch den Glauben und das Leben von Menschen geprägt hat. Außerdem gab es in Deutschland auch die Würzburger Synode.
Frage: Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik von 1971 bis 1975. Sie hat versucht, die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) umzusetzen.
Kohlgraf: Ja, sie hat zwar in Rom keine große Wirkung entfaltet, aber doch in Deutschland diese starke Polarisierung der Kirche verhindert. Sie hat dazu beigetragen, dass es ein konstruktives Mittelfeld der Gläubigen und auch der Bischöfe gibt. Dass wir zusammenbleiben, das ist für mich die große Hoffnung – je nachdem, wie der Synodale Weg ausgeht.
Frage: Sind die Bischöfe in Deutschland theologisch auf einer anderen Linie als in den Niederlanden?
Kohlgraf: In den 70er und 80er Jahren hat eine bestimmte Personalpolitik der Bischofsbesetzungen in den Niederlanden eine bestimmte theologische Richtung vorgegeben, die dann prägend wurde. Wie es dort heute keinen wirklich liberalen Katholizismus mehr gibt, gab es auch keine wirklich liberalen Bischofsernennungen. In Deutschland gibt es eine größere Vielfalt an Positionen. Auch die jüngsten Bischofsernennungen haben hier keine bestimmte theologische Linie festgezurrt. Das kann auch nochmals ein Signal sein, dass Rom heute anders mit diesen Polarisierungen und Konflikten umgeht.
Frage: Die Niederlande haben wie Deutschland ein Problem mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Erheben die Bischöfe dort wie in Deutschland ihre Stimme dagegen?
Kohlgraf: Gesellschaftspolitische Botschaften der Kirche sind dort eher selten. Sie werden auch nicht mehr wirklich wahrgenommen. Der katholischen Kirche in ihrer starken Minderheitsposition geht es eher darum, ihre katholische Identität zu stärken.