Über eine Alternative zum Strandurlaub: das Pilgern

Eine religiöse Intensivzeit

Veröffentlicht am 04.06.2015 um 00:01 Uhr – Von Claudia Zeisel  – Lesedauer: 
Pilgern

Bonn ‐ Die Sommerferien stehen vor der Tür - und damit auch die ersehnte Erholung, bei der viele zunächst an Wellnesshotelsund Strandurlaub denken. Aber warum nicht einfach mal Pilgern? Dabei kann man nicht nur viel über sich selbst lernen.

  • Teilen:

Markus Nicolay, Sekretär der Trierer St. Jakobsbruderschaft und Domvikar im Bistum Trier, hat folgende Erklärung für den Boom: Pilgern bringt Entschleunigung. "Im Alltag des Termindrucks und der Fremdbestimmung durch Arbeit bietet das Pilgern völlig andere Gesetzmäßigkeiten." Man habe nichts anderes zu tun, als sich von morgens bis abends fortzubewegen, zu essen und nach einer geeigneten Unterkunft zu suchen. Trotz körperlicher Anstrengung sei das auch erholsam.

Hinzu kommt auch der individuelle Faktor: "In der Religion findet zurzeit eine starke Individualisierung statt, und Pilgern ist anders als das Wallfahren eine sehr individuelle Angelegenheit." Schließlich könne jeder die Art, Dauer und den Schwierigkeitsgrad des Pilgerns eigenständig bestimmen. Besonderen Reiz macht natürlich das Pilgern im Ausland aus. Das kommt der ursprünglichen Bedeutung des Pilgers als jenem, der sich in der Fremde bewegt, am nächsten.

Gute Vorbereitung ist wichtig

Wer sich für eine Pilgerreise entscheidet, muss sich im Vorfeld gut informieren. Die Infrastruktur ist schließlich nicht in allen Ländern und Regionen gleich gut. Bei der Suche nach der richtigen Route können verschiedene Pilgerführer helfen oder die einzelnen Jakobus-Gesellschaften, die Beratungen anbieten und auch im Internet informieren.

Barbara E. Preuschoff engagiert sich bei der Deutschen St. Jakobusgesellschaft unter anderem als Redakteurin in der Mitgliedszeitschrift "Sternenweg". Die Zeitschrift informiert über Pilgerpraxis, Wege und Projekte in Deutschland und Europa. Je nachdem, wie lange die Pilgerreise dauern soll, müsste auch die Vorbereitung frühzeitig einsetzen, rät Preuschoff. "Die Pilger in spe sollten sehen, dass sie so 20 bis 25 Kilometer am Tag gehen können." Das ist in etwa der Durchschnittsabstand zwischen zwei Pilgeretappenzielen mit Übernachtungsmöglichkeiten.

Die Kathedrale von Santiago de Compostela.
Bild: ©musuraca/Fotolia.com

Die Kathedrale von Santiago de Compostela.

Dem eigenen Tempo folgen

Preuschoff rät zudem für den Anfang vom Alleinepilgern ab. Das solle man nur, wenn man etwas Erfahrung habe und die Infrastruktur des Pilgerwegs einigermaßen gut sei. "Man sollte sich da nicht überschätzen", so Preuschoff. In der Gruppe sei es natürlich sicherer, auch wenn diese sich durch das unterschiedliche Lauftempo der einzelnen Pilger auseinanderziehen könne. "Wichtig ist, dass jeder sein eigenes Tempo gehen kann."

Auch der Düsseldorfer Biologieprofessor Gerd Gellißen plädiert für das richtige Maß beim Pilgern. Er selbst ist im Sommer 2011 den Jakobsweg von Köln nach Santiago de Compostela in 93 Tagen gelaufen. "Es ist kein Hochleistungssport", betont er. Jeder müsse sich den eigenen Bedingungen anpassen. So wie ein 70-jähriger Fahrradpilger, den Gellißen unterwegs traf. Dessen Frau war gelähmt und saß im Rollstuhl, den er vorne an sein Fahrrad montiert hatte. "Das sind Dinge, die sieht man sonst nicht", sagt Gellißen.

Eins mit dem Weg

Über seinen 2.700 Kilometer langen Fußmarsch hat er ein Buch geschrieben. An einem Morgen während der Reise blickt Gellißen auf ein einzigartiges Landschaftspanorama und schreibt: "Die letzten drei Monate schossen wie im Zeitraffer durch meine Gedanken, Erinnerungen an Orte und Landschaften, an Hitze und Kälte, an Menschen und Begegnungen. Rührung, Stolz, Ergriffenheit und Dankbarkeit gegenüber meiner Frau verbanden sich zu einem Glücksgefühl von einer Intensität, die schmerzte. An diesem unfreundlichen kalten Morgen wurde der Weg das Ziel, und ich wurde eins mit dem Weg."

Moderne Form der Religiösität

Der Pilgerboom steht der Abkehr vieler Menschen von einem traditionell religiös geprägten Alltag aber nicht paradox entgegen, meint Domvikar Markus Nicolay. Vielmehr verdichtet sich für Menschen, die im Alltag wenig oder gar keine religiöse Praxis haben, das Pilgern zu einer "religiösen Intensivzeit", wie es Nicolay nennt.
"Die Menschen gehen während des Pilgerns viel häufiger in den Gottesdienst und natürlich auch am Ende in die Kathedrale von Santiago."

Darin stecke wohl auch eine moderne Form der Religiosität, die sich eben eher auf bestimmte Zeiten im Jahr konzentriere. "So wie sich die Menschen in bestimmten Phasen Zeit für die eigene Gesundheit oder die Familie nehmen, während der Rest des Jahres der Arbeit gewidmet ist, so nehmen sie sich in bestimmten Phasen Zeit, um ihrer Seele etwas Gutes zu tun."

Von Claudia Zeisel