Pastoraltheologe fordert neue Ansätze in Ausbildung und Berufungspastoral

Sellmann zu Studie: Den Priesterberuf nicht "musealisieren"

Veröffentlicht am 20.05.2024 um 00:01 Uhr – Von Matthias Altmann – Lesedauer: 

Bonn/Bochum ‐ Junge Priester haben ein Selbstverständnis, das mit der modernen Gesellschaft fremdelt: Das sagt eine neue Untersuchung. Studienleiter Matthias Sellmann erklärt im katholisch.de-Interview, warum ihn das beunruhigt – und welche neuen Ansätze in der Ausbildung und beim Priesterbild nötig seien.

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Die Mehrheit der jungen Priester kann mit den Themen des Synodalen Wegs nicht viel anfangen, kommt aus dem austrocknenden volkskirchlichen Milieu und fremdelt mit der modernen Welt: Das sind einige der Ergebnisse einer Untersuchung mit dem Titel "Wer wird Priester?", die vergangenen Freitag vorgestellt wurde. Erstellt hat sie das Bochumer "Zentrum für angewandte Pastoralforschung" (zap) im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Im Interview spricht Studienleiter und zap-Chef Matthias Sellmann über die Kirche als gestalterische Kraft, eine Erweiterung des Priesterbildes und den Blick in die Zukunft.

Frage: Herr Sellmann, wer die kirchliche Lage beobachtet, ist von den Ergebnissen Ihrer Studie nicht unbedingt überrascht. Was macht sie trotzdem sinnvoll?

Sellmann: Sie verdichtet und zeigt manche bekannte Punkte nochmal zugespitzt. Manches war auch in dieser Klarheit bisher so nicht empirisch ausformuliert. Zweitens hat die Bischofskonferenz den Auftrag einer empirischen Untersuchung direkt verbunden mit der Bitte um strategische Empfehlungen aus pastoraltheologischer Sicht. Das ist alles andere als selbstverständlich. Und drittens überlegt man in der DBK, ob die jetzige Studie nicht der Auftakt zu einer Langzeituntersuchung werden soll. Das würde heißen, dass man in bestimmten Abständen eine solche Studie durchführt. Das wäre eine wichtige Innovation, weil man dadurch einen längerfristigen Datenbestand aufbaut, der es erlaubt, noch robustere strategische Empfehlungen abzugeben.

Frage: Was ist aus Ihrer Sicht der größte Erkenntnisgewinn?

Sellmann: Für mich persönlich sind es zwei Dinge, leider beide beunruhigend. Zum einen die organisationsbezogene Sicht: Welches Führungspersonal braucht eine moderne Kirche? Priester sind theologisch und von ihrer sozialen Rolle her Führungspersönlichkeiten. Unsere Studie ergibt aber ein priesterliches Selbstverständnis, das sehr deutlich mit dieser modernen Gesellschaft fremdelt. Das war in früheren Priestergenerationen anders. Man ist vom akademischen Grad ja Ärzten vergleichbar, Rechtsanwälten, Unternehmern. Trotzdem sieht man sich keineswegs als Gestaltungskraft in einer modernen Gesellschaft und hat auch offenbar nur defensive Ideen dafür. Das führt dann andererseits dazu, dass die jüngeren Priester eine berufliche Erwartung an sich selbst haben, die sehr konträr zu dem ist, was sie im Berufsleben erwarten wird. Um es kurz zu sagen: Sie wollen Liturgen sein – was ehrenhaft ist und zunächst gar nicht zu kritisieren. Ihr beruflicher Alltag wird aber erheblich anderes von ihnen abfordern. Ich befürchte, das dominante Motivationsmuster von vielen jungen Priestern wird alternativlos erodieren, weil es kaum jemand abruft. Da hat Kirche dann auch eine gesteigerte Arbeitgeberfürsorge wahrzunehmen.

Frage: Man könnte jetzt die Rückfrage stellen, ob ein Priester überhaupt gestalterische Ideen für eine moderne Gesellschaft haben muss. Er soll ja in erster Linie das Himmelreich verkünden…

Sellmann: Da würde ich dagegenhalten. Für wen sollte Kirche primär da sein? Für die Hauptamtlichen? Nein. Also dann für die Gemeinde, die Gläubigen? Auch nein. Kirche ist gar nicht für sich selbst da. Gemeinsam sollen Christinnen und Christen für die da sein, die Gott und die Lebensqualität von Religion bisher nicht kennenlernen konnten – also für das Quartier, die Stadt, die Region: die Gesellschaft.

Matthias Sellmann
Bild: ©Martin Steffen

Der Bochumer Pastoraltheologe und Leiter des Zentrums für angewandte Pastoralforschung (zap), Matthias Sellmann.

Frage: Priester sollen heutzutage auch Gestalter und Manager sein – Sie kritisieren in Ihrer Studie, dass das bislang in der Priesterausbildung wenig berücksichtigt werde, und fordern ein Umsteuern. An welche Maßnahmen denken Sie da konkret?

Sellmann: In der aktuellen Ratio nationalis, den Rahmenbedingungen für die Priesterausbildung in Deutschland, finden wir wieder, jedenfalls meines Wissens zum gegenwärtigen Stand, eine ganz hohe Betonung von Persönlichkeitsentwicklung und geistlicher Entwicklung. Dagegen habe ich überhaupt nichts einzuwenden. Oft wird diese geistliche Idee aber genau konträr zur Organisationsidee gestellt: Soll ich jetzt Gestalter oder Seelsorger sein? Genau dieses "oder" ist fatal – und meiner Meinung nach auch ungeistlich. Denn durch die Gemeindereformen in den Bistümern und die Verknappung der Priester kommen sie zwangsläufig in Rollen hinein, in denen von ihnen immer mehr Verwaltung und Leitung gefordert wird. Sie müssen nicht nur authentisch und spirituell sein, sondern auch ihre Rolle spielen können – etwa in der Ehrenamtsförderung, des Netzwerkaufbaus, der Mitgliederbegleitung, der Öffentlichkeitsarbeit usw. Das wird in der Ausbildung zu wenig vermittelt. Das oftmalige Fehlen dieser organisationalen Intelligenz hat übrigens auch Nischen geschaffen, in denen Missbrauch und Vertuschung möglicher wurde – darauf hat der Synodale Weg klar hingewiesen.

Frage: Die Studie sagt: Junge Priester sind eher konservativ und keine Mitträger des Synodalen Wegs. Dabei sind sie diejenigen, die die Kirche in Deutschland künftig leiten sollen. Wie lässt sich da eine Brücke finden?

Sellmann: Ich bekenne mich klar zum Synodalen Weg; er ist überaus wichtig für die anstehende Transformation unserer Kirche. Selbstkritisch ist aber festzustellen, und das wird durch unsere Studie bestätigt, dass sehr viele Priester skeptisch am Rand dieses Weges stehen. Wenn also die zentralen Multiplikatoren vor Ort den Synodalen Weg nicht mitmachen, ist das sehr problematisch. Hier muss mehr Gespräch über die Gründe und die Perspektiven stattfinden, zum Beispiel mit den Priesterräten. Das ist eine Bringschuld des Synodalen Wegs. Es ist aber auch eine Holschuld der Priester. Denn sie können sich als Profis meiner Meinung nach nicht einfach vom Gesamtweg abkoppeln, den die Kirche in Deutschland in einer großen Mehrheit eingeschlagen hat. Beide Seiten haben also zu tun.

Frage: Provokant und überspitzt gefragt: Werden aus Sicht der Studie mit Blick auf die prognostizierte Zukunft der Kirche die ungeeigneten Leute Priester?

Sellmann: Auch hier spreche ich für mich, in meiner Theologie: Ich habe ein bestimmtes Kirchen- , ein bestimmtes Priester- und ein bestimmtes Gesellschaftsbild. Aus diesen Überzeugungen heraus sage ich: Wir brauchen in Deutschland eine geistlich reiche Kirche, die sich als kulturelle Ressource für freies, selbstbestimmtes, kreatives und gemeinwohlorientiertes Leben anbietet. Und das kann sie! Solch eine Kirche aber braucht vor allem in ihrer Führung Personen, die diese Gesellschaft bewusst mitgestalten wollen. Die allianzfähig sind, kommunikationsfähig, veränderungsfähig. Katholische Treue zur Tradition würde sich nach meinem Verständnis heute gerade darin zeigen, dass man die Welt voranbringen will, dass man Gott zeigen will, und zwar als konkrete Ressource für ein zukunftsfähiges Zusammenleben aller. Unsere Gesellschaft hat eine Kirche verdient, die Avantgarde sein will – zusammen mit den anderen gemeinwohlorientierten Kräften. All das sehe ich im Widerschein der Studie nicht. Daher kommt meine Besorgnis.

„Unsere Gesellschaft hat eine Kirche verdient, die Avantgarde sein will – zusammen mit den anderen gemeinwohlorientierten Kräften. All das sehe ich im Widerschein der Studie nicht.“

—  Zitat: Matthias Sellmann über die Erkenntnisse aus der Priesterstudie

Frage: Sie sprechen ja auch von "Recruiting" von Priesterkandidaten. Wie soll man Leute, die aus anderen Milieus kommen, die vielleicht anders denken, überzeugen?

Sellmann: Wir haben zwei übergreifende Empfehlungen abgegeben und die zweite Empfehlung differenziert. Die erste übergreifende Empfehlung lautet, die Zugangsbestimmungen für das Priestertum zu erweitern. Eine Aufhebung des Pflichtzölibats beispielsweise wäre zwar sicher kein Patentrezept, aber dies würde die Vielfalt möglicher Priestertypen schon einmal deutlich erweitern. Ebenso die Zulassung von Frauen. Zweitens ginge es um ein energisches Umsteuern in der Berufungspastoral. Hierzu gibt die Studie viele Anregungen. Um nur eines zu nennen: Wir brauchen neue mediale, überraschende Bilder vom Priester. Wenn man sich die vergangene Berufungskampagnen in Deutschland ansieht, wird dort meistens der Priester am Altar gezeigt, der Eucharistie feiert, oft sogar ohne Gemeinde im Bild. Wo sind die anderen Bilder: Der Priester als Streetworker? Vor einem Kino? Auf einer Jugendfreizeit? Als Leiter eines Vorstandes? In Krankenhaus, Gefängnis, Kindergarten? Als Notfallseelsorger, beim Auslandseinsatz der Bundeswehr? Beim Tag der offenen Tür der örtlichen Feuerwehr? Als Künstler? Im Fitness-Studio? Das wären doch neue Bilder, in denen sich zeigt, dass Priestersein volle Zeitgenossenschaft bedeutet. Neue Assoziationsketten sind gefragt.  

Frage: Aber wie realistisch ist es denn, Leute damit zu erreichen? Ohne starke kirchliche Bindung und ein klares Glaubensprofil wird sich vermutlich keiner auf den Weg machen, Priester zu werden – auch wenn man das Priesterbild noch so erweitert.

Sellmann: Es ist sicher völlig unrealistisch, wenn alles so bleibt. Ich versuche es mal anderes herum: In unserer Gesellschaft spielt Seelsorge eigentlich eine große Rolle. Nur in anderen Gestalten als wir das bisher als Kirche für uns definieren. Schauen wir nur mal auf das Kompetenzprofil von Seelsorge: Das sind Leute, die wissen und können sehr viel über mentale Gesundheit; über gewaltfreie Konfliktmediation; über aktivierende Gruppenprozesse; über innovative Organisationskultur; über kulturellen Dialog; über inspirierendes story-telling; über community organizing; über förderliche Rituale; über globalen Solidaritätsaufbau, und vieles mehr. Und das wäre doch alles erkennbar Ausdruck unserer jesuanischen Sendung. Wer solche Kompetenzen hat, ist gesellschaftlich eigentlich überaus nützlich und attraktiv. Nur sind wir in der Kirche noch nicht so weit, unsere Berufe konsequent von diesen Bedarfen her neu zu entwickeln. Das sage ich explizit als Professor auch kritisch zu unserem Theologiestudium. Ob so eine Umsteuerung nun realistisch ist oder utopisch, weiß ich nicht. (lacht) Ich hoffe einfach, dass wir den Priesterberuf nicht "musealisieren". Ich möchte ihn gerne hineindefinieren wollen in das, was heute konkret an Seelsorge gebraucht wird.

Frage: Mir scheint, dass die Studie immer noch von einem sehr klassischen Verständnis von Seelsorge ausgeht – dass diese vor allem gemeindlich oder pfarrlich organisiert werden soll. Kirche ist aber nicht auf diese Struktur festgelegt.

Sellmann: Ich bin trotz der unübersehbaren Krise der Gemeinden weiterhin stark von der Notwendigkeit einer territorialen Nahwelt-Struktur von Pastoral überzeugt. Auch diese müsste aber neu von den aktuellen Bedarfen moderner Siedlungsformen her entwickelt werden. Begriffe wie Quartierverantwortung, Aufbau informeller Pflegenetzwerke, Bündelung lokaler Gemeinwohl-Interessen, Priorität für Diakonie, konsequente Förderung der Kinder und Jugendlichen vor Ort usw. können eventuell verdeutlichen, was ich meine. Aber es stimmt: Es kommen die neuen Kirchorte hinzu, die kategorialen, okkasionalen und digitalen Realitäten von Kirche. Also etwa Citypastoral, mobile Pastoral, Eventpastoral, Kirche im digitalen Raum.

Priesterbefragung offenbart Strukturschwächen in der Ausbildung

Spiritualität vor Management – katholische Priester in Deutschland haben laut einer Studie oft ein anderes Amtsverständnis, als es für die Leitung von Gemeinden gefragt ist. Das hat Auswirkungen auf Reformbestrebungen.

Frage: Läuft die Kirche in Deutschland Gefahr, in Zukunft Gemeinden ohne Hirten und gleichzeitig Hirten ohne Herde zu haben?

Sellmann: Ich finde diese Metaphern überholt und für die professionelle Beschreibung des so wichtigen Priesterberufs auch unattraktiv. Aber in der Tendenz, wenn alles so bleibt, deutet alles darauf hin, ja. Das gewohnte Mobilisierungsmuster, das wir in der Studie ja beschreiben, wird nicht mehr funktionieren.

Frage: Empfehlungen sind schön und gut – sie müssen aber umgesetzt werden. Da sprechen ja nicht nur die deutschen Bischöfe mit, sondern auch Rom. Ist da überhaupt Optimismus angesagt?

Sellmann: Ich bin tatsächlich optimistisch. Zum einen, weil ich Bischof Michael Gerber (Vorsitzender der DBK-Kommission für Geistliche Berufe, Anm. d. Red.) im Rahmen dieser Arbeit als einen verantwortlichen Entscheider kennengelernt habe, der sehr klar die Diagnose wahrnimmt und teilt und zudem klar gewillt ist, mit anderen die Kirche in neue Formen zu führen. Zweitens haben beim Synodalen Weg differenzierte Ideen eine Mehrheit gefunden, auch unter Bischöfen: Priester im Nebenberuf oder "viri probati" und eben auch die Ordination von Frauen. Und drittens – da mögen Sie mich jetzt für etwas naiv halten – war es immer schon die Stärke der Kirche, sich den Bedarfen ihrer Gegenwart nicht zu verschließen, sondern sich von ihnen innovativ herausfordern zu lassen. Und wenn diese Gesellschaft etwas braucht, dann Leute mit dem Kompetenzprofil von "Seelsorge", das ich eben beschrieben habe. Kurz: Man kann völlig redlich katholisch sein – und gerade deswegen modern, in der Kultur beheimatet und auch aus der Perspektive der nicht-kirchlichen Partner nützlich für eine gemeinwohlförderliche Gesellschaftsentwicklung.

Von Matthias Altmann