Ich würde wieder dorthin gehen
Um sich für die Freiheit anderer Menschen einzusetzen wurde Alexis Premkumar von seinem Orden 2011 nach Afghanistan berufen. Zunächst als Projektdirektor, später auch als Länderdirektor des Flüchtlingsdienstes der Jesuiten (JRS) kümmert er sich in dem seit Jahrzehnten umkämpften Land am Hindukusch darum, den Menschen eine Zukunftsperspektive zu bieten.
Seit 2005 begleitet der JRS in Afghanistan zurückgekehrte Flüchtlinge, die viele Jahre im Exil in Iran oder in Pakistan gelebt haben. Vor allem Bildung gehört neben dem Aufbau von Infrastruktur zu den Schwerpunkten der JRS-Projekte in Bamiyan, Daikundi, Kabul und Herat. Eine von den Jesuiten unterstützte Schule im Dorf Sohadat, einer Rückkehrersiedlung nahe der Provinzhauptstadt Herat, will Alexis Premkumar auch am 2. Juni 2014 besuchen (siehe großes Foto oben, entstanden knapp einen Monat vor Premkumars Entführung).
Er kommt unangemeldet. Eigentlich will er zu diesem Zeitpunkt gar nicht in der Gegend sein. Nachdem das indische Konsulat in Herat Ziel eines Anschlags geworden ist - bereits mehrfach wurden Neu-Delhis Vertretungen in Afghanistan attackiert - und dieses in der Folge alle Inder im Land zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen hat, entschließt sich der katholische Jesuitenpater aus dem südindischen Tamil Nadu, die Region für einige Zeit zu verlassen. Er will andere Projekte im Land besuchen. Doch ausgefallene Flüge durchkreuzen die Pläne des Länderdirektors.
Verbaler Missbrauch, der ihn trifft wie nichts zuvor und danach
"Untätig sein, das ist einfach nichts für mich", sagt Alexis Premkumar und lacht. Also habe er sich entschieden, spontan doch in die Schule nach Sohadat zu fahren. Doch zu einem Besuch kommt es nicht mehr. Kaum steht sein Wagen vor dem Schultor, sieht er bereits einen Jeep heranbrausen. "Mir war schnell klar, auf was es hinauslaufen wird", sagt der Jesuitenpater. Schüsse fallen. Seinen Kollegen gelingt es noch, sich in das nur ein paar Schritte entfernte, von einer Mauer umgebene Schulgelände zu retten.
Alexis Premkumar dagegen packen die vier Angreifer im Nacken und ziehen ihn in ihr Fahrzeug. Die Aktion dauert keine fünf Minuten. "Ich war der einzige Ausländer. Sie hatten es ohnehin nur auf mich abgesehen, denn Einheimische bringen kein Lösegeld. So funktioniert das nun mal", sagt er. Bei allem, was er im Nachhinein erzählt, macht er einen überraschend aufgeräumten und stabilen Eindruck. Denn die Odyssee, die sich anschließt, führt ihn wiederholt an seine Grenzen. "Niemand soll das erleben müssen, was mir widerfahren ist", sagt er. In jeder Sekunde seiner Geiselhaft habe er fliehen wollen.
In den 38 Wochen wird Alexis Premkumar von immer wieder wechselnden Gruppen an insgesamt neun verschiedenen Orten festgehalten. Kräftezehrende kilometerlange Märsche und stundenlange Fahrten durch unwegsames Gelände sind die Folge. Die Angst davor, von Drohnen attackiert oder gefunden zu werden, sei bei seinen Entführern offenbar sehr groß gewesen. "Ich brauche etwas zu essen", "ich muss zur Toilette" – dies sei die einzig mögliche Konversation zwischen ihnen gewesen.
Es habe Momente gegeben, in denen er beinahe rührend umsorgt wurde, mit warmer Kleidung für den Winter oder mit Medikamenten. Es habe Stunden gegeben, in denen er seinen Entführern in entspannter Atmosphäre ein paar Worte Englisch beigebracht habe. Und es gibt Momente, in denen Alexis Premkumar misshandelt wird. Mit einer schweren Kette sei er geschlagen worden, als er sich das erste und ob der Auswirkungen einzige Mal während seiner gesamten Gefangenschaft gewehrt habe. Nämlich dann, als ihm seine Entführer die Augen verbinden wollen. An Händen und Füßen gefesselt ist er ohnehin beinahe die ganze Zeit.
Als eines der schlimmsten Erlebnisse ist Alexis Premkumar jedoch der Moment in Erinnerung geblieben, als einer seiner Bewacher ihn eines Tages fragt, warum er in sein Land gekommen sei. Wahrheitsgemäß antwortet der Jesuitenpater, dass er für eine Nichtregierungsorganisation gekommen ist, um der Bevölkerung des Landes zu helfen. "Der Umstand, dass ich Christ und noch dazu Priester bin, war für meine Entführer nie von Bedeutung", sagt Alexis Premkumar. Das Wissen, er sei Ausländer und Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, habe diesen ausgereicht.
"Keine Angst, wir sind gute Taliban. Wir machen so etwas nicht"
Es ist eine andere Frage, die ihn bis heute nicht loslässt. "Bist Du gekommen, um Sex mit unseren Mädchen zu haben", habe der Bewacher von ihm wissen wollen. Diese Frage, dieser verbale Missbrauch habe ihn getroffen wie nichts zuvor und danach. Auch andere Erniedrigungen muss er über sich ergehen lassen. Manch besonders schikanöser Bewacher lässt ihn nicht einmal alleine zur Toilette gehen.
Alexis Premkumar sieht zudem oft wochenlang kein Tageslicht. Etwa dann, wenn eine in den Fels geschlagene Wohnhöhle seine Bleibe ist. Anderswo wiederum kann er sich mehrere Stunden am Tag frei bewegen, die Wolken am Himmel und das in der Ferne stattfindende Leben beobachten. "In diesen Momenten habe ich mich der Freiheit immer ein Stück näher gefühlt", sagt er.
Immer wieder scheint diese sogar zum Greifen nahe. Zu Beginn seiner Entführung heißt es noch, er werde am selben Tag freigelassen, wenn das Lösegeld überbracht worden sei. Nichts passiert. Wie so oft. "Das Schlimmste war, nicht zu wissen, was in der nächsten Minute geschieht", sagt Alexis Premkumar. Bis zum Schluss weiß er nicht, wer ihn eigentlich festhält. Der Umstand, dass es Taliban sind, liegt nahe, bleibt aber letztlich unbewiesen. Verantwortliche bekennen sich nie.
"Immer wieder habe ich gefragt, wohin sie mich bringen und was sie wollen", sagt er. Eine Antwort habe er nie bekommen. Nur manchmal offenbaren seine Bewacher ihre offensichtliche Zugehörigkeit zur Terrormiliz. "Eines Tages haben sie mir ein Video von den Hinrichtungen des Islamischen Staates gezeigt", sagt Alexis Premkumar. Gestern ein geköpfter westlicher Journalist und heute er, Alexis Premkumar? Die lapidare Antwort der Entführer. "Keine Angst, wir sind gute Taliban. Wir machen so etwas nicht."
Nicht wirklich klar sind bis heute auch die Umstände seiner Freilassung am 22. Februar. Im Januar hätten ihm seine Entführer von einer Zusammenkunft zwischen Vertretern seiner Regierung und ihren Anführern erzählt. In Katar, wo die Taliban vorübergehend ein Büro unterhielten, wurde auf Vermittlung der indischen Regierung eine Einigung ausgehandelt. Auch der Jesuiten-Flüchtlingsdienst ließ dabei seine Kontakte spielen. Ob Geld geflossen ist, wisse er nicht, sagt Alexis Premkumar. Auch sonst ist darüber nichts bekannt.
Wenn Gottes Plan es vorsieht, ist er bereit zurückzukehren
Eines ist für den Jesuitenpater aber sicher: "Meine Befreiung wurde dadurch ermöglicht, dass so viele Menschen während meiner Gefangenschaft für mich gebetet haben." Gebete und Exerzitien aus der Schule von Ignatius von Loyola, die den spirituellen Kern des Jesuitenordens bilden, seien es auch gewesen, die ihn den ständigen Wechsel zwischen Hoffnung und Todesangst haben ertragen lassen. "Jeden Tag habe ich mir Gründe vor Augen geführt, wofür ich heute dankbar sein kann - das Essen oder einen freundlichen Aufpasser."
Immer wieder habe er auf diese Weise seiner Gefangenschaft in Gedanken entfliehen können. Und: Alexis Premkumar schreibt Lieder. Eines, um sich erinnern zu können, wie lange er an welchem Ort festgehalten wird. Eines, um seinen Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen. "Wie ein Tier bin ich an Ketten gelegt. Wie die Vögel am Himmel sehne ich mich nach der Freiheit. Ich glaube, dass Gott mein Leben schützen wird. Dieser tiefe Glaube hält mich am Leben", heißt es darin.
Das alles habe er gänzlich hinter sich gelassen. "Seelische und körperliche Schäden habe ich nicht davon getragen. Ich bin derselbe Mensch wie zuvor", sagt Alexis Premkumar. "Nur meine Gebete haben heute, nach dieser Erfahrung nochmals eine tiefere Intensität als früher." Vor allem wolle er künftig noch mehr für den Frieden in Afghanistan und die Menschen dort beten. Seine Entführer nimmt er davon nicht aus.
Sicherlich, kritisieren würde er die Menschen, die ihn gefangen gehalten hätten, für das, was sie taten. Aber Hass empfinden? Nein, das würde er ganz sicher nicht. "Die Afghanen sind edle Menschen und die Taliban letztlich ein Resultat der zahlreichen Weltprobleme", sagt Alexis Premkumar, der vorerst als JRS-Direktor für Südasien in Indien weiterarbeiten wird.
Es sei deshalb das richtige Signal, als Jesuitenmission auch nach seiner Entführung weiterhin in Afghanistan präsent zu sein und die Menschen in die Zukunft zu begleiten. Wenn Gottes Plan es vorsehe, werde er auch selbstverständlich wieder selbst zurück nach Afghanistan gehen. "Ich bin Jesuit, das ist nicht meine Entscheidung", sagt Alexis Premkumar. "Wenn man mich fragt, bin ich dazu bereit."
Out of the depths, I cry to you, O Lord
O God of my liberation
O my Lord of heaven on earth
O my Saviour, who was born on earth to save the world,
I humbly beseech you, please set me free.
I humbly beseech you, please set me free.
In the ocean of Taliban’s captivity, I am drowning.
In the prison of loneliness, I am struggling.
In the absence of my near and dear ones, I am perishing.
And I am longing for the Society of Jesus.
Like an animal, I am chained.
Like the birds in the sky, I yearn for freedom.
My soul longs for reunion with my people
My mind is in anguish, in fear of death
I believe that the good will prevail in my life.
With that belief, I keep praying relentlessly
O God! Nothing is impossible for you.
This deep faith keeps me alive.
Dieses Lied schrieb Jesuitenpater Alexis Premkumar während seiner Gefangenschaft.