Vom Hörsaal in den Klostergarten
Einmal in der Woche kehrt die Studentin der bayerischen Landeshauptstadt den Rücken, um ins Kloster Bernried am Starnberger See zu fahren. Dort hilft sie den Missions-Benediktinerinnen und arbeitet auf dem Klostergelände mit - meistens im Garten. Deshalb steckt in ihrem grauen Rucksack an diesem Vormittag alte Kleidung zum Wechseln, die dreckig werden darf.
Noch ist Ruth in Gedanken aber bei der Vorlesung vom Morgen, die zu ihren Lieblingsveranstaltungen in diesem Semester gehört. "Der Professor setzt sich darin mit atheistischen Einwänden gegen den Glauben auseinander, das finde ich spannend", erzählt sie mit einem leichten schwäbischen Dialekt. Die 22-jährige studiert gleich zwei Studiengänge: Sonderpädagogik bei geistiger Behinderung und katholische Theologie.
Cocktails, Konzerte, Kloster
Dennoch ist sie weit davon entfernt, den ganzen Tag mit Lernen zu verbringen. Begeistert berichtet die zierliche junge Frau von ihrer Vorliebe für Konzerte, besonders, wenn es sich um Rockmusik handelt. Außerdem mixt sie Cocktails, wenn im Wohnheim mal wieder eine Party ansteht. "Letzte Woche gab es keinen Abend, an dem ich nicht bei einem Bier mit irgendjemandem zusammensaß", sagt sie lachend. Das normale Studentenleben gehört für sie genauso dazu wie ihr Tag im Kloster.
Von der U-Bahn ist Ruth inzwischen in einen Regionalzug gewechselt. Es gibt genug Platz, die meisten Menschen wollen am Montagvormittag eher in die Stadt rein als raus aufs Land. In Tutzing muss sie noch einmal umsteigen. Der Zug nach Bernried fährt erst in einer halben Stunde, aber die lange Wartezeit am einsamen Bahnsteig scheint die vielbeschäftigte Wahl-Münchnerin nicht zu stören. Was wird sie im Kloster erwarten?
"Die Gartenschwester ist uralt", erzählt sie, "die kann kaum mehr etwas allein machen." Also überlege Schwester Guntlinda oft im Voraus, welche Arbeiten Ruth ihr abnehmen könne. Die Studentin berichtet von zwei Gewächshäusern voller Tomaten, Salatbeeten, Himbeer-, Brombeer- und Johannisbeersträuchern, der Apfelernte im Herbst und dem Christbaumfällen im Winter. Alles, was im Garten wächst, wird in der Großküche des Klosters verarbeitet. Die Missions-Benediktinerinnen in Bernried leben vor allem von ihrem Bildungshaus und haben daher viele Gäste, die versorgt werden wollen. "Es kommt nie vor, dass es nichts zu tun gibt", resümiert Ruth. Stolz erzählt sie von ihrem eigenen Beet im Klostergarten. Die Aufgaben von Schwester Guntlinda hätten aber immer Priorität.
Schon am Ortseingang von Bernried ruft eine Frau vom Balkon: "Hallo, Ruth!" Die erzählt gerade, dass Bernried einmal zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt wurde. Es hat alles, was ein idyllisches bayerisches Dorf ausmacht: die Kirche mit Zwiebeltürmchen ist umgeben von bemalten Häusern und hinter dem See zeichnet sich am Horizont die Silhouette der Alpen ab.
Gummistiefel statt Riemchensandalen
Im Kloster angekommen tauscht Ruth ihre Riemchensandalen mit Gummistiefeln. Die Schwestern sind gerade noch beim Mittagessen, also bleibt ein wenig Zeit, um auf die Dachterrasse zu gehen. Verträumt blickt Ruth auf das in der Sonne glitzernde Wasser des Starnberger Sees. Spätestens jetzt wird nachvollziehbar, warum ihr die Zeit in Bernried als Ausgleich zum Großstadtleben so wichtig ist. "Ich genieße einfach die Ruhe und das Arbeiten in der Natur", beschreibt sie. Und ja, Bernried sei auch der Grund gewesen, warum sich die Neu-Ulmerin München als Studienort ausgesucht hat.
Den Blick in das Gewächshaus kommentiert sie grinsend: "Willkommen im Dschungel!" Bereits um diese Jahreszeit ist es darin unerträglich heiß, trotzdem steht das Ausgeizen der Tomaten auf dem Programm. Dabei werden die überflüssigen Triebe der Pflanzen abgezwickt, die keine Früchte bringen würden. Eine meditative Arbeit, bei der man früher oder später ins Gespräch kommt. Ruth erzählt davon, wie sie nach dem Abitur zuerst ein Freiwilliges Soziales Jahr in Chile und anschließend den Bundesfreiwilligendienst in Bernried gemacht hat. Als ihre Eltern von dem Plan hörten, nach ihrer Rückkehr aus Chile ein weiteres Jahr zu pausieren, hätten sie erst einmal gefragt: "Studieren willst Du aber schon, oder?"
Stichwort: Missions-Benediktinerinnen
Die Missions-Benediktinerinnen von Tutzing sind eine Frauengemeinschaft, die nach der Regel des heiligen Benedikt lebt. Sie wurde im Jahr 1885 gegründet und besitzt mittlerweile zwölf Priorate auf der ganzen Welt. Zum deutschsprachigen Priorat gehören fünf Niederlassungen, darunter Bernried am Starnberger See. Im dortigen Bildungshaus St. Martin gibt es über das Jahr verteilt unterschiedliche Kursangebote, darunter die Möglichkeit einer "Auszeit im Kloster".Das wollte sie, aber ebenso war sie fasziniert vom Leben in dem Kloster, das sie kennt, seit sie ein Baby ist. Damals hatten ihre Eltern, beide Pastoralreferenten, eine Möglichkeit gesucht, Ostern mit der Familie an einem geistlichen Ort zu verbringen. Nachdem sie das erste Mal in Bernried gewesen waren, kehrten sie jedes Jahr dorthin zurück, auch in diesem Jahr. "Ich kann mir nicht vorstellen, Ostern jemals anders zu feiern", sagt Ruth. In Bernried erlebe sie das Leid der Kartage und die Osterfreude der Auferstehung so intensiv wie es in der Pfarrei nicht möglich wäre.
Nach der Mittagsruhe kommen auch die Schwestern in den Garten. Alle freuen sich, die junge Frau zu sehen, fragen, wie es ihr geht und was gerade ansteht. Schwester Adelgunde erkundigt sich, ob sie vielleicht die Fuchsien umsetzen könnte. Aber dazu ist an diesem Tag keine Zeit. "Es fällt mir schwer, dann nein zu sagen", gibt Ruth zu, "aber ich muss heute echt noch etwas für die Uni machen." Also entscheidet sie sich dafür, stattdessen einen Rosenkranz zu basteln. Auch diese Arbeit hat mit dem Garten zu tun. Die Perlen sind selbst angepflanzte Bohnen, die durchbohrt und mit Draht verbunden werden. Geschickt wickelt Ruth den widerspenstigen Draht zu Verbindungsstücken. Ihre fließenden Bewegungen zeugen davon, wie viele sie schon angefertigt hat. Gäste des Klosters können die Rosenkränze gegen eine Spende erwerben.
Rosenkränze aus Bohnen und Draht
Schwester Guntlinda beobachtet die junge Frau und staunt über ihre Fingerfertigkeit. "So gut kann ich das nicht mehr", bedauert sie. Ruth fragt, ob es in Ordnung sei, statt im Garten an den Rosenkränzen zu arbeiten. "Das ist mir ganz recht", wiederholt die freundliche Schwester immer wieder und streichelt Ruth liebevoll den Kopf.
Kurz bevor der Rosenkranz fertig ist, kommt Schwester Lilian-Ruth ein wenig aufgeregt in die Werkstatt. "Du, Ruth, ein Gast hat einhundert Lauchpflanzen hier gelassen, für die er im eigenen Beet keinen Platz mehr hatte." Ruth sieht sie sich an und berät sich mit der Gartenschwester über die nicht eingeplanten Setzlinge. Schwester Guntlinda glaubt, einen Platz für sie zu haben und verspricht, sie später einzusetzen.
Schon wird es Zeit, den Rückweg anzutreten, schließlich wird die Studentin dafür wieder etwa eineinhalb Stunden brauchen. Niemals würde sie ihre Tage im Kloster als vergeudete Zeit betrachten. Bekäme sie Geld für ihre Arbeit, würde das alles verändern. "Dann hätte ich plötzlich einen Zwang, hinzugehen. Jetzt setzen mich die Schwestern überhaupt nicht unter Druck. Ich soll kommen, wenn es mir reinpasst." Wann immer es möglich ist, nimmt sie auch an den Gebetszeiten der Schwestern teil. "Ich habe gemerkt, dass das Stundengebet eine Form ist, die mir guttut."
Haben ihre Kommilitonen Verständnis dafür, dass sie einen Tag in der Woche unentgeltlich Nonnen bei der Gartenarbeit hilft? "Klar ist es für Außenstehende nicht das Coolste, was man sich vorstellen kann", bemerkt sie. Manchmal erzähle sie es auch gar nicht erst. Von ihren engen Freunden aber hätten sie einige schon aus Neugier nach Bernried begleitet. Viele hätten Vorurteile über das Leben im Kloster gehabt und gefragt, ob es dort eine Kleiderordnung gäbe oder ob man dort überhaupt lachen dürfe. Ruth freut sich über jeden, der Bernried mit einem positiven Gefühl und einer neuen Vorstellung vom Klosterleben verlässt, was wegen der wunderschönen Natur und den munteren Schwestern bislang immer der Fall gewesen sei.
Wohin führt ihr Weg?
Wohin ihr eigener Weg sie führt, weiß die junge Frau noch nicht. Erst einmal möchte sie ihre beiden Studiengänge abschließen und dann beide miteinander verknüpfen - etwa, indem sie in einer kirchlichen Einrichtung für behinderte Menschen arbeitet.
Ruth sitzt im Zug zurück nach München und gähnt, auch bei ihr meldet sich am späten Nachmittag die Müdigkeit eines unternehmungsreichen Wochenendes. Bis zu ihrem Studienabschluss möchte sie auf jeden Fall in München bleiben, um immer wieder zu Schwester Guntlinda und den anderen raus an den Starnberger See zu fahren.