Corinna Paeth sieht innere Zerrissenheit bei vielen Kirchenmitarbeitern

Recollectio-Haus-Leiterin: In der Kirche gibt es immer noch viel Angst

Veröffentlicht am 08.08.2024 um 00:01 Uhr – Von Roland Müller – Lesedauer: 

Münsterschwarzach ‐ Das Recollectio-Haus in Münsterschwarzach will eine Oase sein, an der ausgebrannte Seelsorger wieder Kraft tanken können. Corinna Paeth leitet die Einrichtung. Sie spricht im katholisch.de-Interview über die Bedürfnisse der Kirchenmitarbeiter – und warum Missbrauchstäter keinen Platz im Haus haben.

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Seelsorger und andere Mitarbeiter der Kirche haben es momentan alles andere als leicht: Sie müssen sich oftmals dafür rechtfertigen, warum sie überhaupt für die Kirche arbeiten, und verzweifeln selbst nicht selten an ihrem Arbeitgeber. Corinna Paeth, die Leiterin des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterschwarzach, sieht einen Anstieg dieser inneren Zerrissenheit, sagt sie im Interview mit katholisch.de. Die Psychologin erklärt, wie ihre Einrichtung ausgebrannten Kirchenmitarbeitern helfen möchte.

Frage: Ende Juni hat der ehemalige Leiter des Recollectio-Hauses, Wunibald Müller, in einem Interview mit katholisch.de davon gesprochen, dass sich zu seiner Zeit dort auch Missbrauchstäter länger aufgehalten haben – auch wenn er betont hat, dass das Haus kein Sammelbecken für Täter und Pädophile war. Seit 2016 ist Müller nun im Ruhestand. Was hat sich seit dieser Zeit im Recollectio-Haus mit Blick auf dieses Thema getan?

Paeth: Mir ist wichtig zu betonen, dass wir seit jeher im Recollectio-Haus keine Gäste aufnehmen, die grenzüberschreitend gehandelt haben oder bei denen eine Störung der Sexualpräferenz festgestellt wurde, wie etwa die Pädophilie. Nun ist es aber so, dass man diese Punkte im Vorgespräch zu einem Aufenthalt bei uns nicht immer erkennen kann oder ein Gast sich hier nicht offen zeigt – damit hatte wohl auch Wunibald Müller zu kämpfen. Also kann es eventuell Gäste im Recolletio-Haus gegeben haben, die zuvor grenzüberschreitend gehandelt haben. Durch die Missbrauchskrise in der Kirche sind wir noch mehr dafür sensibilisiert worden, darauf zu schauen. Deshalb kann ich garantieren, dass wir derzeit auch bei dem kleinsten Hinweis auf eine entsprechende sexuelle Präferenzstörung diese Menschen nicht als Gäste bei uns aufnehmen. Wir wären auch nicht die richtige Einrichtung für die Behandlung dieser Probleme – ebenso wenig, wie für Menschen mit einer schweren depressiven Episode inklusive Suizidalität oder einem akuten Suchtproblem.

Frage: Das Recollectio-Haus soll also ein "Safe space" sein?

Paeth: Genau, denn viele unserer Gäste haben als Betroffene grenzüberschreitendes Verhalten erlebt. Wir haben eine Verantwortung für die Menschen, die zu uns kommen, damit sie nicht neu verletzt werden. Diese Gäste wollen wir schützen, und können deshalb keine möglichen Missbrauchstäter oder Menschen mit einer Pädophilie bei uns aufnehmen.

Frage: Mit welchen Problemen und Themen kommen die Gäste ins Recollectio-Haus?

Paeth: Viele unserer Gäste fühlen sich sehr erschöpft oder niedergeschlagen. Sie arbeiten für die Kirche und sind erschüttert über die Missbrauchskrise und den Umgang damit. Sie fragen sich, wie es möglich war, dass so viele Priester zu Tätern geworden sind – und warum die Kirche das in vielen Fällen gedeckt hat. Dahinein spielt das Thema Identifizierung mit dem Arbeitgeber Kirche. Daraus kann unter Umständen ein großer Loyalitätskonflikt entstehen. Viele unserer Gäste müssen die Kirche nach außen hin repräsentieren, fühlen sich in ihrem Inneren aber nicht mehr zugehörig zur Institution Kirche. Das ist eine tiefe Zerrissenheit, die zu einer Erschöpfung beitragen kann.

Dr. Corinna Paeth
Bild: ©Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach

Die promovierte Psychologin Corinna Paeth leitet das Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach.

Frage: Haben Sie den Eindruck, dass diese Zerrissenheit in den vergangenen Jahren größer geworden ist?

Paeth: Sie hat sich auf jeden Fall verschärft. Neben der Missbrauchsthematik haben sich noch andere Themen herauskristallisiert, mit denen sich kirchliche Mitarbeitende auseinandersetzen müssen. Etwa die steigende Anzahl von Kirchenaustritten, das Thema Frauen in der Kirche oder der Umgang mit der sexuellen Orientierung. Diese Themen sind in den vergangenen Jahren wesentlich stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Eine Folge davon ist auch, dass kirchliche Mitarbeitende kein gutes Standing mehr in der Gesellschaft haben. Sie sehen sich in einem permanenten Rechtfertigungsdruck, warum sie für die Kirche arbeiten.

Frage: Aber in der Kirche in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren doch auch einiges getan, etwa im Zuge der Aktion #OutInChurch. Zum Beispiel die neue Grundordnung, die größtenteils vor Sanktionen durch das kirchliche Arbeitsrecht aufgrund des Privatlebens der Kirchenmitarbeiter schützt. Kommt das bei Ihren Gästen nicht an?

Paeth: #OutInChurch ist sicherlich ein Meilenstein in der Geschichte der Kirche in Deutschland und hat große Veränderungen ins Rollen gebracht. Ich bemerke schon, dass etwa homosexuelle pastorale Mitarbeitende offener mit ihrer Sexualität umgehen. Dennoch gibt es in der Kirche immer noch viel Angst. Ebenso ist das Bild einer Kirche, die Homosexuelle sanktioniert, weiterhin präsent. Auch viele Gemeindemitglieder sehen es noch kritisch, wenn sich etwa ein pastoraler Mitarbeiter outet. Teilweise zeigen sich diese Vorbehalte auch bei Vorgesetzten. #OutInChurch war besonders nach außen hin ein großer Schritt, aber innerkirchlich gibt es hier noch viel Arbeit.

Frage: Dabei geht es schließlich um einen Kulturwandel, der mit Sicherheit seine Zeit braucht.

Paeth: Die Veränderungen gehen relativ langsam vonstatten. Auch der Synodale Weg und seine Reformen schleppen sich nur mühsam voran – und er wird vom Vatikan nicht unbedingt befürwortet. Es hinterlässt Spuren bei den pastoralen Mitarbeitenden, dass es eine so große Kluft zwischen Rom und Deutschland gibt. Damit verbunden ist die Frage, was die Reformbemühungen innerhalb der Kirche überhaupt bringen.

Frage: Wie können Sie den Gästen helfen, die mit ihrer Erschöpfung und vielleicht auch ihrem Frust über die Kirche zu Ihnen ins Recollectio-Haus kommen?

Paeth: Wir verstehen uns als eine Art Oase in der Kirchenlandschaft, in der Mitarbeitende der katholischen, aber auch der evangelischen Kirche, Ordensleute und auch spirituell interessierte Menschen aufatmen und zur Ruhe kommen können. Im Recollectio-Haus können sie auf ihr Leben blicken und eine Perspektive für die Zukunft entwickeln. Ebenso können sie psychisch und spirituell wieder auftanken, mit ihrer eigenen Menschlichkeit wieder in Berührung kommen.

Bild: ©Julia Martin

Mit ihren vier Türmen prägt die Abtei Münsterschwarzach im Bistum Würzburg die Landschaft. Das Recollectio-Haus ist eine Einrichtung des Klosters.

Frage: Wie sieht ein Aufenthalt im Recollectio-Haus aus?

Paeth: Wir haben ein ganzheitliches Begleitungsprogramm. Das heißt, wir versuchen Spirituelles, Psychisches und Körperliches zu begleiten und zu fördern. Unsere Gäste haben einen festen geistlichen Begleiter und eine feste psychologische Begleiterin. Jeder Gast hat Einzelgespräche bei diesen Begleitern. Zwei bis dreimal in der Woche finden psychologische Gruppensitzungen statt, bei denen die eigenen Themen der Gäste im Fokus stehen und bearbeitet werden. Zusätzlich bieten wir Entspannungsverfahren und geistliche Workshops an. Außerdem gibt es Sporteinheiten mit einer Physiotherapeutin und künstlerische Angebote. Natürlich haben wir aber auch eine Kapelle im Recollectio-Haus, in der regelmäßig Gottesdienste stattfinden, die ausschließlich für unsere Gäste sind. Wir bieten drei Langzeit-Kurse (neun Wochen) und zwei Vier-Wochen-Kurse im Jahr an, mit jeweils 16 Gästen pro Kurs. Außerdem bieten wir eine ambulante psychologische Begleitung an.

Frage: Was geben Sie den Menschen mit, wenn sie wieder zurück in den Alltag gehen?

Paeth: Unser Ziel ist es, die Menschen wieder aufzurichten, damit sie mit Zuversicht in die Zukunft schauen und mit einem Lächeln unser Haus verlassen. Das gelingt uns auch in fast allen Fällen. Wir empfehlen, weiterhin an den eigenen Themen zu arbeiten, etwa in Form von geistlicher Begleitung, damit im Alltag jemand von außen auf das Leben unseres ehemaligen Gastes schaut, wie das hier Gelernte umgesetzt wird. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass die Gäste noch eine gewisse Zeit nach dem Kurs weiterhin mit uns ambulant in Kontakt sind.

Frage: Durch Ihre Arbeit mit den kirchlichen Mitarbeitern könnte man das Recollectio-Haus als eine Art Seismograf für die Situation der Seelsorger in der Kirche bezeichnen. Stimmen Sie dem zu?

Paeth: Auf jeden Fall. Ich hatte erst kürzlich mit einem Bistum Kontakt, das gefragt hatte, wie es sich besser um seine pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern kann. Da konnte ich von unseren Erfahrungen sprechen und Hilfestellungen geben. Ansonsten gibt es auch das Kuratorium, dem die Personalverantwortlichen unserer zehn Trägerdiözesen angehören. Bei dem jährlichen Treffen dieses Gremiums hier in Münsterschwarzach geben wir den Mitgliedern mit, was uns unsere Gäste an Sorgen und Nöten aus der Arbeit berichten – selbstverständlich anonymisiert und als generelle Empfehlung. Natürlich betrachten wir hier im Haus immer die Einzelfälle, und ich gebe den Personalverantwortlichen genau das als Tipp: Sie sollen schauen, was ihre Mitarbeitenden als Menschen brauchen und sie nicht nur in ihrer Funktion als Mitarbeitende sehen. Ein anderes Beispiel: Nicht jeder Seelsorger kann einen größeren pastoralen Raum leiten, denn da braucht man gewisse persönliche Kompetenzen, die nicht alle von sich aus mitbringen. Da könnte eine zusätzliche Förderung oder ein Kommunikationstraining nötig sein. In jedem Fall ist ein intensiver Austausch zwischen Mitarbeitenden und Personalabteilung wichtig, damit die Bedürfnisse der Seelsorger erkannt werden und sie nicht an ihrer Arbeit verzweifeln.

Von Roland Müller