Missbrauch in Neuseeland: Überproportional in religiösen Einrichtungen
Mehr als ein Drittel der in neuseeländischen religiösen Betreuungseinrichtungen untergebrachten Menschen haben im Lauf ihrer Unterbringung Missbrauch erfahren. Damit war das Risiko im Vergleich zu staatlich getragenen Einrichtungen deutlich höher, wie aus dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht der Untersuchungskommission "Abuse in Care" hervorgeht. Die Kommission fordert daher von Religionsgemeinschaften neben strukturellen Maßnahmen eine Entschuldigung von höchster Stelle, inklusive des Papstes.
Der Bericht geht davon aus, dass zwischen 1950 und 1999 655.000 Menschen in Kinderheimen, Waisenhäusern, Pflegefamilien, Behinderteneinrichtungen und Internaten untergebracht waren, von denen 200.000 körperlichen und sexuellen Missbrauch erfahren haben. Besonders häufig betroffen waren Angehörige der indigenen Maori sowie Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Die Kommission geht davon aus, dass religiöse Einrichtungen die höchste Rate an Missbrauch aufweisen im Vergleich zu den anderen untersuchten Feldern: Den 31 Prozent an Missbrauchsbetroffenen insgesamt stehen 33 bis 38 Prozent an Missbrauchsbetroffenen in kirchlichen Einrichtungen gegenüber.
Mangelndes Bewusstsein für systemische Ursachen von Missbrauch
Im Rahmen der Untersuchung hatten einige der Religionsgemeinschaften selbst Untersuchungen zu Missbrauch angestellt. Die katholische Kirche gibt an, dass zwischen 1950 und 2022 1.680 Missbrauchsfälle gemeldet wurden. Von den 7.807 der Kirche bekannten Klerikern und Ordensleuten in diesem Zeitraum wurden 1.122, also gut 14 Prozent, als mutmaßliche Täter beschuldigt. "Trotz des Ausmaßes von Missbrauch und Vernachlässigung innerhalb der katholischen Kirche in Aotearoa/Neuseeland ist der Untersuchungskommission nicht bekannt, dass die Kirche die systemischen Ursachen hierfür in Betracht zieht. Nur sehr wenige hochrangige Amtsträger wurden für die Systeme und das Umfeld zur Rechenschaft gezogen, die es Mitgliedern der katholischen Kirche ermöglichten, den weit verbreiteten Missbrauch und die Vernachlässigung fortzusetzen", heißt es im Untersuchungsbericht. Als systemische Ursachen macht die Untersuchungskommission unter anderem Klerikalismus und die moralische Autorität religiöser Institutionen aus, durch die Gelegenheitsstrukturen und eine Kultur der Straflosigkeit geschaffen wurden, sowie die Diskriminierung von Frauen und die Tabuisierung von Sexualität.
Zusammenfassung der Ergebnisse zu religiösen Einrichtungen
Die Untersuchungskommission hat ihre Erkenntnisse zu Missbrauch in religiösen Einrichtungen in einer eigenen 74-seitigen Broschüre zusammengefasst: "Survivors' experiences of abuse and neglect in faith-based care" ("Erfahrungen von Überlebenden von Missbrauch und Vernachlässigung in religiösen Betreuungseinrichtungen").
Die Kommission spricht gegenüber Religionsgemeinschaften 22 Empfehlungen aus. Dazu gehören die Einführung, Einhaltung und Überprüfung allgemeiner Schutzstandards, eine vorbehaltlose Zusammenarbeit mit Aufsichtsbehörden, die Sensibilisierung und Qualifizierung von Beschäftigten, Verantwortungsträgern und angehenden Seelsorgern für die Missbrauchsprävention, wirksame Strukturen der Aufsicht und Kontrolle über Führungspersönlichkeiten, ein unabhängiges, niederschwelliges und transparentes Meldewesen für Missbrauch, klare Regeln für den Umgang mit Verdachtsfällen und Beschuldigten sowie eine konsequente Amtsenthebung von Klerikern und Seelsorgern, die wegen Missbrauchs verurteilt wurden.
Von den Oberhäuptern der untersuchten Religionsgemeinschaften verlangt die Kommission eine Entschuldigung. Für die katholische Kirche soll dabei der Papst sprechen: "Der Papst muss sich öffentlich entschuldigen und die Verantwortung für den Missbrauch und die Vernachlässigung der Überlebenden in der Obhut anerkennen und übernehmen." Eine Gelegenheit dafür könne die im September geplante Reise von Papst Franziskus nach Indonesien, Papua-Neuguinea, Osttimor und Singapur sein: "Es wäre angemessen, wenn er auch Aotearoa/Neuseeland besuchen würde, um sich persönlich bei den Missbrauchsopfern in der katholischen Kirche zu entschuldigen."
Bischofskonferenz begrüßt Bericht
In einer ersten Reaktion begrüßte die neuseeländische Bischofskonferenz den Bericht. "Wir sind uns bewusst, dass einige von uns – darunter auch führende Vertreter der katholischen Kirche – in der Gesellschaft eine besondere Verantwortung tragen, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse und Empfehlungen dieser wichtigen Untersuchung nicht verloren gehen oder auf die Worte in einem Bericht beschränkt bleiben. Wir verpflichten uns, diese Verantwortung zu übernehmen", heißt es in der von den Vorsitzenden der Bischofskonferenz und der Ordensobernkonferenz unterzeichneten Mitteilung. Schon im vergangenen Jahr hatte die katholische Kirche Neuseelands in einem Brief eingestanden, angesichts des Missbrauchs in den eigenen Reihen versagt zu haben. Die Zusicherung aus diesem Brief gelte auch heute noch: "Wir werden die Schutzmaßnahmen in allen Bereichen des kirchlichen Lebens weiter verbessern. Wir dulden keinen Missbrauch in der Kirche, heute nicht und auch in Zukunft nicht."
Auch Premierminister Christopher Luxon zeigte sich angesichts des Berichts betroffen. "Heute ist ein dunkler und trauriger Tag in der Geschichte Neuseelands als Gesellschaft und als Staat. Wir hätten es besser machen sollen, und ich bin entschlossen, dass wir das tun werden", sagte er am Mittwoch. Für den 12. November kündigte er eine offizielle Entschuldigung der Regierung an. Luxon rechnet mit Entschädigungszahlungen in Höhe von mehreren Milliarden neuseeländischen Dollar für die Betroffenen. Ein neuseeländischer Dollar entspricht etwa 0,55 Euro. Die Untersuchungskommission wurde 2018 von der Regierung Neuseelands eingesetzt und untersuchte Einrichtungen des staatlichen Betreuungssystems sowie von Religionsgemeinschaften getragene Einrichtungen. Einrichtungen von acht Religionsgemeinschaften waren Teil der Untersuchung, darunter die katholische Kirche. In den religiösen Einrichtungen wurden 254.000 Menschen untergebracht, mehr als die Hälfte davon in Kinderheimen und Pflegefamilien sowie 43 Prozent in Internaten. (fxn)