Weniger Mitglieder und sinkendes Interesse zwingt Gemeinde sich neu aufzustellen

Wie sich eine deutsche Kirchengemeinde in Rio gegen ihr Ende stemmt

Veröffentlicht am 24.08.2024 um 12:15 Uhr – Von Andreas Nöthen – Lesedauer: 

Rio de Janeiro ‐ In Rio de Janeiro könnte demnächst ein Stück katholische Kirchengeschichte schleichend zu Ende gehen. Der deutschsprachigen katholischen St. Bonifatius-Gemeinde sterben allmählich die Mitglieder aus. Das Gemeindehaus war nicht mehr zu halten. Doch die Gemeinde gibt nicht auf.

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"Wir erleben in der Kirche radikale Veränderungen, die auch an unserer kleinen Gemeinde nicht spurlos vorübergeht", schreibt Gemeindedirektor Dieter Buschle in einem Bildband, den er anlässlich des 80. Geburtstags des Gemeindepräsidenten Jürgen Wischermann voriges Jahr aufgelegt hat. Die angesprochenen Entwicklungen sind im Grunde nicht neu und überall ähnlich: Die Bindung der Menschen an die Kirche schwindet, der Gottesdienst und die Gemeinde verlieren für viele an Bedeutung. Und in Rio kommt erschwerend hinzu, dass die deutschsprachige Auslandsgemeinde keine Zuwächse mehr hat. Im Gegenteil: Allmählich stirbt die Gemeinde aus, fast alle Mitglieder sind 80 Jahre oder älter.

Dabei hat St. Bonifatius eine blühende Vergangenheit erlebt. Gegründet hatte sie der 1934 nach Brasilien entsandte Pastor Bernhard Hagedorn aus Warendorf. Hagedorn blieb bis 1959 in Brasilien, gründete unter anderem das "Deutsche Wochenblatt", eine deutschsprachige Zeitung, veranstaltete Filmabende, gründete einen Kirchenchor. Im März 1959 wurde er gegen seinen Willen aus Rio in die Heimat abberufen, wo er nur wenige Wochen später in der Sakristei seiner Heimatgemeinde verstarb.

In den 1950er-Jahren gründete die Gemeinde, deren Sitz in der Rua do Bispo in der Nähe des Maracana-Stadions war, dort ein Caritaszentrum, zu dem neben einem Kinderhort auch ein Hotelbetrieb gehörte. 38 Angestellte arbeiteten dort und betreuten bis zu 200 Gäste. In den 1960er-Jahre weitet die Bonifatius-Gemeinde ihr Engagement aus, übernimmt unter Pater Otto Ammann das Waisenhaus "Lar da Criança". In den 1970er-Jahren kommt ein Kindergarten, das "Colegio Cruzeiro", hinzu. Das Haus in der Rua Sao Clemente, noch von Pastor Hagedorn gekauft und bis zuletzt das Gemeindehaus mit Kapelle, war zu jenem Zeitpunkt das Wohnhaus des jeweiligen Geistlichen.

Pfarrer und Geschäftsleitung tauchen nie wieder auf

Der Gemeinde prosperierte. Die Mitglieder waren zahlreich und sie erhielt zudem finanzielle Unterstützung vom Auslandsreferat der Deutschen Bischofskonferenz, die auch für das geistliche Personal in Rio sorgte. "Das ist längst Geschichte", sagt Dieter Buschle heute. Er ist der Gemeinde seit Jahrzehnten verbunden, feierte viele Familienfeste dort und ist seit 1981 im Kirchenvorstand aktiv. Kurz vor der Jahrtausendwende ist damit Schluss. Man habe selbst zu wenig Personal, als dass man noch welches ins Ausland schicken könne, lautete die Begründung. Der letzte entsendete Pfarrer Bernhard Volkmer und ein Mitglied der Geschäftsleitung verlassen die Gemeinde 1995 Knall auf Fall und tauchten nie wieder auf.

Doch ohne Seelsorger geht es schlecht und so macht sich die Bonifatius-Gemeinde fortan selbst auf Personalsuche. Was auch immer wieder gelingt, wenn auch meist nur für kurze Dauer – zuletzt immer schlechter, ab 2003 gar nicht mehr. Jürgen Wischermann aber gibt nicht auf und sucht weiter und findet immer wieder Patres die aushelfen. Aktuell wird der Gottesdienst noch einmal monatlich von einem Ordensbruder geleitet, nachdem bis vor wenigen Jahren Pater Josef Hortal bis zu seinem 90. Geburtstag die Messen las.

Gemeindedirektor Dieter Buschle in der Kapelle der Bonifatius-Gemeinde
Bild: ©Andreas Nöthen

Seit Jahrzehnten ist Dieter Buschle der deutschsprachigen Bonifatius-Gemeinde in Rio de Janeiro. Inzwischen fungiert er als Gemeindedirektor.

In der Nordzone, rund um das Caritaszentrum nimmt indes mit der Zeit die Kriminalität zu, die Gäste im Hotel bleiben aus, die Einnahmen sinken. Der Vorstand entschließt sich, das Gebäude an das Krankenhaus "Casa do Portugal" zu verkaufen, das darin eine onkologische Station einrichtet.

1990 nimmt die Gemeinde einen weiteren Anlauf, baut ein Waisenhaus. Um die Kosten abzusichern, entsteht unter Pfarrer Franz Neumeyer in der Stadt Niteroí, die Rio de Janiero an der Guanabarabucht gegenüber liegt, mit dem Bau des Hotels "Solar do Amanhecer", übersetzt: Morgensonne. Doch auch diese Einrichtungen sollen nicht mehr lange in Betrieb bleiben.

Ziel der Gemeinde trotz Verkleinerung gleich

Die St. Bonifatiusgemeinde beginnt sich zu verkleinern, konzentriert sich darauf, das ehemalige Priesterhaus in Botafogo als Gemeindezentrum auszubauen. Dieter Buschle, Direktor der Gemeinde und Ingenieur, entwickelt einen Masterplan für den Umbau und die Ertüchtigung des mehr als 100 Jahre alten Gemäuers in unmittelbarer Nachbarschaft der deutschen Schule Escola Alema Corcovado und der Favela Donna Marta. Das alte Gemeindehaus in der Rua do Bispo im Stadtzentrum wurde zur Finanzierung der Renovierung verkauft.

Trotz Verkleinerung blieb das Ziel der Gemeinde bestehen. "In all diesen Jahren war die Gemeinde bemüht, Kindern, Jugendlichen und Familien in der Nachbarschaft Lebenshilfe und Mitgefühl zu geben. Und so sollte es auch weiterhin bleiben", sagt Buschle. So stand nun auch die Favela im Mittelpunkt der Jugendarbeit. 60 Kinder erhielten in St. Bonifatius regelmäßig Nachhilfe, Spielten dort oder lernten ein Musikinstrument.

Im Gegenlicht eines Fensters sieht man nur die reflektierenden Brillengläser und die vor der Brust nach oben gehobenen Hände eines Menschen.
Bild: ©ipopba/Fotolia.com (Symbolbild)

Evangelikale Pfingstkirchen sind in Brasilien seit Jahren auf dem Vormarsch. Sie wollten auch ein Gemeindehaus der Bonifatius-Gemeinde erwerben. In letzter Sekunde fand sich mit einer öffentlichen Schule aber ein Käufer, der der Gemeinde besser gefiel.

Doch inzwischen mangelt es der Gemeinde an Nachwuchs und sie altert. "Wir kommen in ein Alter, in dem sich die Zipperlein häufen und die finanzielle Situation der Gemeinde sich bedrohlich verändert", beschreibt Jürgen Wischermann die aktuelle Situation. "Wir haben keine Neuzugänge mehr."

Das bedeutet: Auch das Bonifatius-Haus in Botafogo ist inzwischen zu groß und zu teuer. Irgendwann hätte es das Geld der Gemeinde verschlungen, wäre ein Zwangsverkauf unumgänglich geworden. Dem kamen Buschle, Wischermann und die Gemeindemitglieder zuvor: Sie boten das Gebäude auf dem Immobilienmarkt an.

Öffentliche Schule statt Pfingstkirche als Immobilienkäufer

Interessenten gab es schnell: Die evangelikale Pfingstkirche Igreja Universal, in Brasilien seit Jahren auf Expansionskurs, interessierte sich für das Haus, legte ein vertragsreifes Angebot vor. Ihr Plan war es, das Gebäude abzureißen und einen Tempel für 2000 Gläubige zu bauen. Für die Mitglieder der Bonifatius-Gemeinde ein befremdlicher Gedanke.

Kurz bevor der Notartermin nahte, ein Anruf einer befreundeten Person, dem Leiter der Cruzeiro Schule in Rio de Janeiro, eine öffentliche Schule mit Sprachschwerpunkt Deutsch. Diese war schon länger auf der Suche nach einem Gebäude für ihren schuleigenen Kindergarten. Man habe gehört, die Gemeinde wolle das Gebäude verkaufen? Schnell war man sich einig.

Nun brauchte es nur noch einen neuen Ort für die Gottesdienste. Den fanden Buschle und Wischermann auch: 200 Meter die Straße rauf, in der Schule der Schwestern von Lourdes. Und wie geht es weiter? "Unsere Aufgabe ist nun herauszufinden, was zu tun ist, um der Gemeinde neues Leben einzuhauchen", sagt Dieter Buschle. Nach Aufgabe klingt das nicht.

Von Andreas Nöthen