Kardinal Scherer wird 75: Ein Brasilianer mit saarländischen Wurzeln
Als der Urgroßvater von Odilo Pedro Scherer in den 1880er Jahren aus dem saarländischen Theley auswanderte, träumte er sicher von vielem – aber wohl nicht davon, dereinst einen Erzbischof von Sao Paulo und Papstkandidaten zu seinen Nachkommen zu zählen. Seit 2007 leitet Scherer die mehr als fünf Millionen Katholiken der brasilianischen Metropole. Der Kardinal zählt immer noch zu den einflussreichsten Kirchenmännern Amerikas. An diesem Samstag wird er 75 Jahre alt.
Wer Scherer im tropischen Brasilien im Amt erlebt, kann den Eindruck von freundlich-reservierter Noblesse und etwas steifer Würde gewinnen. Die vielen brasilianischen Kirchenleuten innewohnende Lockerheit hat er nicht, von tropischem Temperament ist bei ihm keine Spur. In seiner Heimat gilt er gar als Konservativer – doch das liegt wohl auch an seiner "deutschen" Zurückhaltung, die im emotional gesteuerten Brasilien leicht als Distanz gewertet werden kann. Doch "Dom Odilo" geht auch dahin, wo es wehtut: in die Favelas, die Elendsviertel der Armen.
In Lateinamerika lobt man seine Tatkraft, Hartnäckigkeit und seinen Gestaltungswillen. Dabei passt das gängige Schema von "konservativ" oder "progressiv" wohl auf wenige weniger als auf Scherer. Die Befreiungstheologie erklärt er für überwunden; dabei zeigt er sich selbst in seinem Bistum volksnah und stark sozial engagiert; ein nicht seltenes Phänomen der aktuellen Bischofsgeneration Lateinamerikas. Allerdings ist sein Ansatz nicht "ideologisch links" motiviert, wie er es ausdrücken würde.
Wege zu den Armen suchen
Scherer greift in der Seelsorge gern auf Laien und auf junge charismatische Gemeinschaften zurück, die mit traditioneller Frömmigkeit und teils unkonventionellen Methoden Wege zu den Armen, Drogensüchtigen und zur sozial gefährdeten Jugend suchen. Zu "seinen" Themen in Brasilien, dem mit rund 140 Millionen an Katholiken reichsten Land der Welt, zählen die ungerechte Landverteilung als Ursache von Konflikten und der Kampf gegen Sklavenarbeit, Korruption und Menschenrechtsverletzungen.
Im Umgang mit den selbsternannten Bischöfen der aufstrebenden Pfingstgemeinschaften und evangelikalen Sekten und ihrem Hang zu Luxuslimousinen zeigt der U-Bahn-Fahrer Scherer klare Kante. Er scheut sich nicht, die Wunderversprecher "moderne Scharlatane" zu nennen: Wer dreimal von sogenannten Christen belogen werde, besuche danach lieber gar keine Kirche mehr.
Stattdessen setzt der Hirte der Mega-Metropole konsequent auf Jugendarbeit und Konzepte der Neuevangelisierung. Auch in den Sozialen Netzwerken ist Kardinal Scherer schon lange als "Menschenfischer" unterwegs. Er verschließt nicht die Augen vor den sozialen Verwerfungen in den endlosen Slums, wo sich die Baracken so fest wie eben möglich an die steilen Hänge heften und die Abwässer in offenen Gräben zu Tal laufen. Hunger, Gestank, Kriminalität, Drogen, Alkohol und Trostlosigkeit bestimmen das Bild in vielen Favelas von Sao Paulo.
In eine kinderreiche Familie wurde Otto Scherer am 21. September 1949 in Cerro Largo im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul als siebter geboren. Seit seiner frühen Jugend nannte er sich selbst "Odilo", der weicheren Aussprache wegen. Als Neffe von Kardinal Alfredo Scherer (1903-1996) absolvierte er eine schnurgerade Kirchenkarriere: Studium in Rom; Mitarbeiter der Bischofskongregation im Vatikan (1994-2001); Generalsekretär der Brasilianischen Bischofskonferenz (2003-2007); Organisator und Netzwerker - wie Jorge Mario Bergoglio/Papst Franziskus – bei der Vollversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates CELAM in Aparecida 2007; Erzbischof der Wirtschafts- und Problemmetropole Sao Paulo.
Urlaubsvertretungen in Hessen
Als Pfarrer machte Scherer Mitte der 1980er Jahre Urlaubsvertretungen im hessischen Bad Vilbel. Als Theologieprofessor lehrte er auch in Frankreich, England und den USA. Er kennt viele Welten der Weltkirche, spricht sechs Sprachen fließend, darunter auch Deutsch.
Scherer galt als enger Vertrauter des deutschen Papstes Benedikt XVI. (1927-2022), der ihn im Jahr 2008 in die Kardinalskommission der Vatikanbank "Istituto per le Opere di Religione" (IOR) berief. Sein guter Ruf in Rom machte ihn nach dem Rücktritt von Papst Benedikt zum großen Favoriten für dessen Nachfolge. Ein Lateinamerikaner sei nun dran, war damals zu hören, und der Name Scherer in aller Munde. Internationale Medien hatten ihre Scherer-Porträts bereits sendefertig. Doch am Konklave vom März 2013 wurde dann Papst Franziskus als erster Papst aus Lateinamerika gewählt.
Mit damals 63 Jahren wäre Scherer damals sowieso noch ziemlich jung für einen Papst gewesen. Bei einem nächsten Konklave wäre er der zweite Lateinamerikaner und Mann der Weltkirche hintereinander – ein eher wenig realistisches Szenario. Zumal sich weder Scherer noch Brasiliens Bischöfe insgesamt in einem politisch extrem bewegten Jahrzehnt zuletzt politisch profiliert haben. Anders als in anderen Regionen Lateinamerikas hält sich die brasilianische Kirche möglichst aus dem politischen Alltag heraus, was an der Basis auch zu Kritik führt. Von den führenden Kirchenvertretern wie Scherer erwarten sich manche Katholiken eine durchaus eindeutigere Positionierung zur politischen Aktualität.