In was für eine Welt sprach Jesus seine Botschaft?
Ein unterdrücktes Volk, das unter der bösen imperialistischen Eroberungsmacht Rom leidet? Ein von der hellenistischen Umwelt weithegend abgeschnittener Landstrich, durchwegs gebeutelt von Armut? Es dürfte nicht wenige Menschen geben, bei denen sich diese Vorstellung über das Heilige Land zur Zeit Jesu festgesetzt hat. Bei der Frage, wie die Welt aussah, in die Jesus seine Botschaft sprach, helfen auch die Evangelien nur bis zu einem gewissen Grad.
Welches Bild lässt sich also – wissenschaftlich fundiert – vom kulturellen Leben und den politischen wie gesellschaftlichen Verhältnissen zur Lebenszeit Jesu zeichnen? Thomas Johann Bauer, Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, warnt vor zu viel Verallgemeinerung. "Das Bild, das viele vom Heiligen Land haben, stammt aus der Orient-Romantik des 19. Jahrhunderts, welches auch die Hollywood-Bibelfilme der 1950er Jahre prägt", sagt er. Archäologische Befunde sagten nämlich etwas anderes: Sie zeigen, dass das Heilige Land ebenso von der römisch-hellenistischen Kultur geprägt war wie weite Teile des damaligen Mittelmeerraums. Das heißt: Von einem harten "clash of civilizations" zwischen jüdischer Bevölkerung und den römischen Besatzern könne im Heiligen Land nicht unbedingt die Rede sein.
Politisch geteilt
Politisch war das Land zur Zeit Jesu zunächst so aufgeteilt, wie es Herodes der Große (73-4 v. Chr.) in seinem Testament verfügt hat: unter seinen Söhnen. Archelaos wurde Landesherr der beiden verfeindeten Gebiete Judäa und Samaria (4 v. Chr-6 n. Chr). Herodes Antipas bekam Galiläa und, lokal getrennt davon, Peräa, einen Landstreifen "jenseits" des Jordans. Der dritte Herodessohn, Philippus, musste sich mit Gebieten nordöstlich vom See Gennesaret begnügen, die sein Vater 24/23 beziehungsweise 20 vor Christus von Kaiser Augustus geschenkt bekommen hatte: Gaulanitis, Trachonitis und Batanäa (4 v. Chr-34 n. Chr). Offiziell entschieden wurde diese Aufteilung aber in Rom – Herodes konnte seine Söhne als "Nachfolger" in seinem Testament lediglich empfehlen.
Herodes der Große war in der damaligen Terminologie ein "rex socius et amicus populi romani", also ein verbündeter Fürst der Römer. Im Inneren verfügte er über weitestgehende Autonomie, nur außenpolitisch hatte er auf römische Belange Rücksicht zu nehmen. Doch das tangierte das innere Leben kaum. Was die jüdische Bevölkerung allerdings zu spüren bekam: Herodes und seine Nachfolgeherrscher in den jeweiligen Gebieten mussten als "Freundschaftsbeweis" viel Geld an die Römer zahlen, sozusagen als Pacht für das ihnen überlassene Land. So erhob Herodes Steuern in dem üblichen System der Unterverpachtung von Steuerbezirken. Das gilt später auch für das Reich von Herodes Antipas, in dem Jesus sich bewegt.
„Das Bild, das viele vom Heiligen Land haben, stammt aus der Orient-Romantik des 19. Jahrhunderts.“
Vielen scheinen die Römer dabei gar als geringeres Übel gegolten zu haben. Nach dem Tod des Herodes begaben sich jüdische Delegationen zu Kaiser Augustus und verlangten von ihm, dass die herodische Herrscherfamilie vollständig beseitigt wird und die Gebiete unmittelbar römischer Verwaltung unterstellt werden. Für das Gebiet des Archelaos gelang dies nach zehn Jahren, auch mit Unterstützung aus Samaria: Judäa und Samaria wurden ab 6 nach Christus unmittelbar römischer Verwaltung unterstellt, mit einem Präfekten vor Ort, der seinerseits wieder unter dem Oberbefehl des Legaten von Syrien stand.
"Es lässt sich also nicht einfach so sagen, dass sich die jüdische Bevölkerung unmittelbar von den Römern unterdrückt fühlte“, resümiert Bauer. Teilweise habe man die Römer sogar willkommen geheißen – "auch wenn es natürlich bestimmte Dinge gibt, bei denen die römischen Verantwortlichen nicht angemessen Rücksicht auf jüdische Interessen und Belange genommen haben“. Auch beim jüdischen Historiker Flavius Josephus lässt sich herauslesen, dass das Verhältnis nicht nur von Spannungen bestimmt war, sondern dass diese Konflikte bestimmte Bevölkerungsgruppen betrafen oder mit unterschiedlichen Vorgehensweisen einzelner Oberbefehlshaber zusammenhingen.
Teil der hellenisierten Welt
Grundlegend für die Gesellschaft damals war die Tatsache, dass die Region überwiegend von Juden bewohnt war und zugleich, vor allem seit Herodes und seinen Söhnen, die Ihre Gebiete für Einflüsse aus dem Westen geöffnet hatten, immer mehr hellenisiert wurde. Es bildete sich in der Folge eine Mischbevölkerung, die je nach Regionen oder Städten sehr unterschiedlich aussehen konnte. Zur Zeit Jesu kam jeder Bewohner des Heiligen Landes mit den Auswirkungen hellenistischer Kultur in Kontakt. Hellenistischer Einfluss bedeutete jedoch nicht, dass die einheimische jüdische Kultur offen bekämpft, nivelliert oder aus religiösen Gründen marginalisiert wurde, schreibt der evangelische Neutestamentler Jürgen K. Zangenberg: "Oft genug bedeuteten nämlich gerade die neuen Impulse des Hellenismus bisher ungeahnte Bau- und Gestaltungsmöglichkeiten für jüdische Zwecke und halfen, dem palästinischen Judentum bei der Ausbildung einer eigenen Formensprache."
Doch es gab auch die andere Seite. Der finanzielle Druck durch das Steuersystem insbesondere auf Kleinbauern und Fischer hat schleichend Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur provoziert, die Sieger und große Verlierer hervorbrachte: Aus kleinen Familienbetrieben, die gerade so viel produzierten, wie für den Selbstunterhalt, kleine Tauschgeschäfte und die nächste Aussaat nötig war, wurden kleinere Wirtschaftsbetriebe – mit Lohnarbeitern, größeren Booten und größeren Feldern. Deren Ziel war der Überschuss, mit dem sich nicht nur die Steuerlast leichter schultern, sondern auch der eigene Betrieb weiter ausbauen ließ. Wer nicht mithalten konnte, stand in Gefahr, die soziale Treppe hinunterzufallen. Die letzte Stufe war dann erreicht, wenn das Land verkauft werden musste und eine Tagelöhnerexistenz die Folge war. Viele Leute verelendeten zunehmend.
All diese umwälzenden Ereignisse riefen unter den Juden ganz unterschiedliche (religiöse) Antworten hervor. Die verschiedenen Gruppierungen bekannten sich alle zu dem einen Gott Israels und seiner Tora, doch zogen sie daraus sehr unterschiedliche Konsequenzen für ihr Leben. Während etwa die Jerusalemer Oberschicht und der Priesteradel im Tempel um gute Beziehungen zu Rom bemüht sind, verüben radikale Gruppen wie die Zeloten (griechisch zelotés, "Eiferer") Anschläge.
Theologische Kritik entzündete sich vor allem an dem Geld, das nach Rom floss: Wer den Römern Tribut für das Land bezahlt, das allein Gott gehört, der bricht mit dem ersten Gebot, das neben Jahwe keine anderen Götter duldet, so die Auffassung. Damit wurde der Keim für eine schleichende Widerstandshaltung im Land gelegt, die sich 60 Jahre später im Jüdischen Krieg (66-70) gewaltsam entladen hat. Zur Zeit Jesu war die Lage noch etwas ruhiger.
Eine spannende Gemengelage
In der Jesusüberlieferung ist gerade die Welt der Bauern und Tagelöhner Galiläas besonders prominent. "Er verkündigte das unmittelbar bevorstehende Kommen des Reiches Gottes als Heilsbotschaft an alle, die durch Armut oder soziale Stigmatisierung vom 'real existierenden‘ Gottesvolk' ausgeschlossen waren, aber als Gericht über alle anderen, die auf ihre sozialen wie religiösen Privilegien vertrauen", schreibt Zangenberg. Und weiter: "Im Zusammenhang mit dieser Botschaft stehen Heilungen und Zeichenhandlungen wie das provokative Feiern von Mahlgemeinschaft mit nicht 'gesellschaftsfähigen' Personen, die Existenz als heimatloser Wanderprediger oder die Berufung eines das wieder gesammelte Gottesvolk verkörpernden Schülerkreises."
Das Heilige Land zur Zeit Jesu war kulturell, politisch und ökonomisch ein äußerst spannendes Terrain. Eine strategisch wichtige Durchgangsstation, an der sich Handelsrouten von Nord nach Süd und von West nach Ost kreuzten. Eine Region, in der die aufstrebende Macht Rom nach der Herrschaft griff, in dem Glaube und Tradition mit neuen Ideen, Werten und Machtformen konkurrierten – mit allem Aufruhr, der einen solchen Prozess begleitet. Jesus von Nazareth spricht seine Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes in diese Gemengelage hinein. Sie erlebt nach und nach einen unvorstellbaren Aufstieg und verändert und in der Folgezeit große Teile der damals bekannten Welt.