Co-Autor weist Kritik an evangelischer Missbrauchsstudie zurück
Der Psychiater Harald Dreßing hat Kritik an der bundesweiten Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche zurückgewiesen. Bei den Betroffenenzahlen hätten die Forschenden explizit von einer Schätzung gesprochen und nicht von einer belastbaren statistischen Hochrechnung, sagte er am Dienstag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Hamburg: "Wir haben vielmehr die ausgesprochen dünne Basis der Schätzung mehrfach explizit betont und deshalb weitere Untersuchungen der Personalakten als notwendig angemahnt", so der Co-Autor der Studie, der für den Zahlenteil verantwortlich war.
Dreßing nahm Bezug auf einen kürzlich veröffentlichten Beitrag des Religionssoziologen Detlef Pollack im Kulturmagazin "Zeitzeichen". Darin hatte dieser die Studie als statistisch nicht seriös kritisiert. Pollack verwies darauf, dass in 19 der bundesweit 20 Landeskirchen lediglich die Disziplinarakten von Pfarrpersonen systematisch durchgesehen wurden und nur in einer Landeskirche auch eine Analyse der Personalakten stattfand. Das Vorgehen der Forschergruppe, die in nur einer Landeskirche erhobene Zahl von Missbrauchsfällen auf alle 20 hochzurechnen, sei statistisch nicht vertretbar.
Die sogenannte "ForuM"-Studie war im Januar von einem unabhängigen Forscherteam vorgestellt worden. Ihr zufolge fanden sich in den Disziplinarakten aller Landeskirchen Hinweise auf 2.225 betroffene Kinder und Jugendliche und 1.259 Beschuldigte in den Jahren 1946 bis 2020. Mit Hilfe einer Hochrechnung schätzten die Forscher insgesamt fast 10.000 Betroffene und etwa 3.500 Beschuldigte. Basis der Hochrechnung waren Zahlen der relativ kleinen Evangelisch-reformierten Kirche mit Sitz im ostfriesischen Leer, die in ihren Disziplinarakten auf sechs Fälle und in den Personalakten auf acht Fälle stieß.
Forschende: Nicht zu viel vorgenommen
Dreßing widersprach auch Pollacks Aussagen, dass sich insgesamt das Bild ergebe, Landeskirchen und Forschende hätten sich mehr vorgenommen, als sie hätten verwirklichen können: "Zumindest das Team der Forschenden hat sich sicherlich nicht zu viel vorgenommen, sondern ein Vorgehen gewählt, das exakt der erfolgreich praktizierten Methodik der MHG-Studie entsprochen hat", so Dreßing. Diese Methodik sei auch klar kommuniziert worden.
Die sogenannte MHG-Studie war 2018 im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) veröffentlicht worden. Darin wurden bundesweit Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche untersucht. Diese Studie hatte Dreßing koordiniert.
Landeskirchen konnten Zahl der Personalakten nicht angeben
Der Psychiater wandte sich auch gegen die Kritik, die Forschenden hätten "katholische Begrifflichkeiten" gewählt, die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verbreitet würden. Viele Landeskirchen seien zum Beispiel nicht in der Lage gewesen, die Zahl der Personalakten von Pfarrerinnen und Pfarrern anzugeben, so Dreßing. Dies sei sicherlich keine katholische Fragestellung. Diese Information wäre dem Wissenschaftler zufolge aber eine Basis für belastbarere statistische Berechnungen gewesen. (KNA)