"Offene Grenzen für alle"
Die acht Seiten umfassende Charta trägt den Titel "Freie Niederlassung für alle: Willkommen in einer solidarischen Gesellschaft!" Dass sie gerade vor den Wahlen und zu einer Zeit erscheint, in der Europa mehr denn je Ziel Tausender Flüchtlinge ist, sei ein "Zufall", sagt einer der Organisatoren, Andreas Nufer, reformierter Pfarrer und Mitglied des Netzwerks "KircheNordSüdUntenLinks". "Aber vielleicht hat das der liebe Gott gewollt". Man äußere sich auch nicht zum Wahlkampf, sondern auf einer theologischen Ebene.
So formuliert die Charta "drei Grundsätze für eine neue Migrationspolitik" auf der Basis der biblischen Überlieferung. Die Theologen lehnen es mit Verweis auf die Bibel ab, Menschen nach Kriterien wie "wirtschaftliche Nützlichkeit" oder "kulturelle Nähe" zu unterscheiden, die in der Migrationsdebatte eine Rolle spielen. Sie orientieren sich vielmehr am Grundsatz der Gleichheit aller Menschen. Ein weiterer Grundsatz sei die Gerechtigkeit, die Leben ermöglicht und die Existenz garantiert. Als dritten Grundsatz nennt die Charta Solidarität: "Eine Politik der Gleichheit und der Gerechtigkeit wird konkret, wenn sie auf solidarischem Recht beruht." Solidarisches Recht schütze die Kleinen und bändige die Großen. Demgegenüber habe das geltende Recht die umgekehrte Tendenz, "die Habenden vor den Habenichtsen zu schützen".
Drei menschenrechtliche Grundsätze
Aus den drei Grundsätzen, die die Menschenrechte prägten, ergeben sich aus Sicht der Theologen drei Grundrechte: Recht auf freie Niederlassung, Recht auf Asyl und Recht auf Existenzsicherung. Das Recht auf Freizügigkeit sei die Bedingung dafür, dass "Migration auch für die Kleinen und Bedrohten in Würde geschehen" könne, heißt es in dem Dokument. Migration dürfe nicht länger "kriminalisiert" werden.
Die Theologen halten fest, dass es in der jüdisch-christlichen Tradition sogar "etwas wie eine Pflicht zur Migration" gebe, wenn Migration den Auszug aus unterdrückerischen Verhältnissen bedeute. Von den Kirchen in der Schweiz erwarten die Autoren, dass sie sich mit geeinter Stimme unmissverständlich zur Migrationspolitik äußern. "Sie sind zu schärfstem Protest und zum Vorlegen eigener Vorschläge gedrängt." Die Kirchen müssten die Migrationsfrage stärker in einen Zusammenhang mit der biblischen Botschaft stellen, sagt Nufer. "Und sie könnten sich vehementer äußern." Derzeit seien weltweit 59 Millionen Menschen auf der Flucht. "Was gegenwärtig in Europa passiert, ist ein Skandal. Es macht die Leute in den Pfarreien und Kirchgemeinden sehr betroffen."
Vorschläge zur Umsetzung
In einem längeren Grundsatztext formulieren die Theologen Vorschläge, wie die Kirchen die genannten Grundsätze auf der Ebene der Seelsorge umsetzen können. Ein Kapitel widmet sich dem Aufbau einer "Willkommenskultur". Ein weiteres beschreibt, wie die Kirchen dazu beitragen können, die gesellschaftspolitischen Forderungen - darunter das Recht auf freie Niederlassung oder das Recht auf Arbeit - umzusetzen. Dem Netzwerk "KircheNordSüdUntenLinks" gehören nach eigenen Angaben rund 120 reformierte und katholische Theologen sowie in der kirchlichen Migrationsarbeit engagierte Personen an. Sie wurde 2011 von Matthias Hui, Redakteur der religiös-sozialistischen Zeitschrift "Neue Wege", und dem katholischen Theologen Daniel Ammann gegründet. Bislang ist das Netzwerk nur in der Deutschschweiz aktiv.