Sicherung der Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates müsse Priorität haben

Debatte um Sozialstaat: Caritas-Präsidentin gegen politische Spielchen

Veröffentlicht am 04.09.2025 um 00:01 Uhr – Von Norbert Demuth (KNA) – Lesedauer: 

Stuttgart ‐ Als "Bullshit" hat Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas die aktuelle Debatte um die Finanzierbarkeit des Sozialstaats bezeichnet. Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa verwendet diesen Begriff nicht, spricht aber von "Unausgegorenem".

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Die Bundesrepublik Deutschland ist laut Grundgesetz "ein demokratischer und sozialer Bundesstaat". Doch wird in der gegenwärtigen Debatte um die Frage, ob man sich den Sozialstaat finanziell überhaupt noch leisten kann, dieser verfassungsrechtliche Auftrag noch genügend beachtet? Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa betont im Interview: "Politik wird diesem Auftrag aktuell nicht gerecht, wenn sie Ängste und Sozialneid schürt." Die seit 2021 amtierende Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes äußerte sich auf ihrer Herbsttour bei Caritas-Einrichtungen am Bodensee.

Frage: Frau Welskop-Deffaa, das Grundgesetz unterstreicht, dass die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Bundesstaat ist (Artikel 20 GG). Und es betont die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Werden diese Grundgesetzartikel in der derzeitigen Debatte genügend beachtet?

Welskop-Deffaa: Deutschland ist ein sozialer Rechtsstaat, und es gehört zu den verfassungsgemäßen Aufgaben der Bundesregierung, ihn auf die jeweiligen Aufgaben und Herausforderungen hin weiterzuentwickeln. Dafür bedarf es dreierlei: einer aufmerksamen Wahrnehmung und sachgerechten Bewertung der sozialen Herausforderungen, der Entwicklung tragfähiger und praxistauglicher Lösungen und einer guten Kommunikation, die das Vertrauen in den Sozialstaat erhält und die Solidarbereitschaft stärkt. Politik wird diesem Auftrag aktuell nicht gerecht, wenn sie Ängste und Sozialneid schürt.

Frage: Wie wichtig ist das Vertrauen in die Politik?

Welskop-Deffaa: Die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, in die sozialen Sicherungssysteme einzuzahlen, setzt voraus, dass diese als insgesamt stabil und fair eingeschätzt werden. Das heißt: Menschen müssen heute besonders darauf vertrauen können, dass Politik im Angesicht der demografischen Kipp-Punkte generationengerechte und sozial ausgewogenen Antworten gibt.

Frage: Bundessozialministerin Bärbel Bas (SPD) sagte kürzlich: "Diese Debatte gerade, dass wir uns diese Sozialversicherungssysteme und diesen Sozialstaat finanziell nicht mehr leisten können, ist (...) Bullshit." Teilen Sie diese Einschätzung? Oder hat sie nicht doch einen weiterreichenden Hintergrund – auch mit Blick auf die Generationengerechtigkeit?

Welskop-Deffaa: Union und SPD sollten als Regierungsparteien gemeinsam ausstrahlen, dass die Sicherung der Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates für sie oberste Priorität hat. Äußere, innere und soziale Sicherheit zu gewährleisten, sind gleichermaßen wichtige und komplexe Anforderungen. Mancher Vorschlag, der da gerade auf den Tisch gelegt wird, scheint auch mir sehr unausgegoren, manches Politikerzitat macht den Eindruck, als sollten vor allem politische Mitstreiter provoziert werden. Solche Spielchen können wir uns nicht leisten. Bürger und Bürgerinnen müssen darauf vertrauen können, dass die notwendigen Reformen mit Respekt, Empathie und Fachkenntnis erarbeitet werden.

Frau Brille und weißem Haar herzt ein Mädchen im Grundschulalter. Detailaufnahme Gesichter.
Bild: ©StefanieB./Fotolia.com (Symbolbild)

Die Frage nach der Generationengerechtigkeit im Sozialstaat wird immer lauter gestellt.

Frage: Wie kann man Generationengerechtigkeit im künftigen Sozialstaat gewährleisten? Sie haben ja gerade gefordert, dass die ältere Generation ihre Leistungsansprüche – etwa bei der Rente – nicht um jeden Preis zulasten der aktiven Generation durchzusetzen sollte.

Welskop-Deffaa: Wenn man die großen Reformen der 1950er Jahre zum Vergleich heranzieht, dann war es auch damals schwer, eine gute Lösung zu finden. Es musste eine Lösung gefunden werden, um den Alten am Wirtschaftswunder-Wohlstand der Jungen gerechten Anteil zu verschaffen. Ohne die aktive Einmischung der katholischen Verbände wäre es nicht zur Einführung der "dynamischen Rente" gekommen, gegen die der von 1949 bis 1963 amtierende Bundeskanzler Konrad Adenauer lange Vorbehalte hegte.

Frage: Und heute?

Welskop-Deffaa: Heute sind wir in einer ähnlichen Situation – wir müssen nun darauf achten, dass die junge aktive Generation durch Sozialversicherungs-Beitragslasten nicht überfordert wird. Unser Sozialstaat braucht das Miteinander der Generationen. Das ist Ausdruck der christlichen Prägung unseres Sozialstaats.

Frage: Welche Erkenntnis nehmen Sie aus Ihrer Herbstreise zu den Caritas-Einrichtungen in der Bodenseeregion mit?

Welskop-Deffaa: Unser Sozialstaat braucht beides – funktionsfähige Sozialversicherungssysteme und eine tragfähige soziale Daseinsvorsorge – nicht nur in den Städten, sondern auch im ländlichen Raum. Einrichtungen und Dienste der Wohlfahrtsverbände sind es, die Menschen in Krisen und Notlagen Unterstützung bieten, ihren Lebensmut sichern und Perspektiven eröffnen.

Frage: Wofür stehen die von Ihnen besuchten Caritas-Einrichtungen? Sie waren unter anderem beim Integrationszentrum Weingarten, das Beratung für Migranten und Geflüchtete bündelt, und der "Solidarische Gemeinde" Aulendorf, einem Modellprojekt für Nachbarschaftshilfe und Teilhabe.

Welskop-Deffaa: Es sind ermutigende Beispiele, die ich in den letzten Tagen kennengelernt habe: Die großartige Arbeit der stationären Eingliederungshilfe für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen, die sozialräumliche Vernetzung der solidarischen Gemeinden, die Menschen Teilhabechancen bis ins hohe Altern sichern, und die Beratung und Qualifikation von Geflüchteten im Integrationszentrum. Diese Projekte bestätigen: Caritas hält Türen offen – und sie öffnet die Herzen für gelebte Nächstenliebe, auf die wir in Zeiten multipler Krisen unbedingt angewiesen sind.

Von Norbert Demuth (KNA)