Weltweit unterschiedliche Meinungen etwa zu Gender und Homosexualität

Wird die Kirche an Moralfragen zerbrechen?

Veröffentlicht am 31.12.2025 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Aachen/Port Harcourt ‐ Zuletzt zeigte die anglikanische Gemeinschaft: Eine Kirche kann an Moral- und Genderfragen zerbrechen. Gilt das auch für die katholische Kirche? Ein Blick in verschiedene Erdteile fördert deutliche Unterschiede zutage.

  • Teilen:

Die Reaktionen hätten unterschiedlicher nicht ausfallen können: Als der Vatikan 2023 mit dem Dokument "Fiducia supplicans" Segnung für Paare außerhalb der katholischen Ehe in engem Umfang erlaubte, sprachen deutsche Bischöfe von einem "Meilenstein", etwa Heinrich Timmerevers. Der kongolesische Kardinal Fridolin Ambongo Besungu hingegen sah darin "ein schlechtes Kapitel in der Geschichte von Papst Franziskus". Wieder einmal scheint sich ein bekanntes Muster zu zeigen: Der globale Norden will die gesellschaftliche Öffnung, der Süden nicht – vor allem bei Fragen zu Frauen, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und Identitäten abseits altgedienter Rollenbilder. Droht da eine Spaltung?

Auf Spurensuche zunächst im globalen Süden. Caroline Mbonu entschuldigt sich: Es ist gerade sehr laut in ihrem Büro. Der Strom im südnigerianischen Port Harcourt ist ausgefallen. Deshalb sorgen gerade die Generatoren dafür, dass sie Licht und Internet hat. Die 69-jährige Ordensfrau der "Handmaids of the Holy Child Jesus" ist Professorin für Neues Testament an der Universität in der Stadt im Nigerdelta. Als sie die Fenster geschlossen hat, wird es ruhiger und sie beginnt, zu erzählen – warum es denn oft gerade "Afrika" zu sein scheint, das so ein Problem mit Rollenbildern hat. Sie betont zunächst, dass es in den afrikanischen Ländern zahlreiche, sich deutlich unterscheidende Ethnien und Sprachfamilien gibt. "Da verdienen zum Teil Frauen die Brötchen und Männer kümmern sich um Haushalt und Kinder, in anderen Gemeinschaften betreten die Frauen aber noch nicht einmal das eigene Feld." Abseits kolonialer Klischees lohnt es sich also, zu differenzieren. Was aber die Kultur ganz vieler Gemeinschaften ausmacht, erzählt Mbonu: Kinder. "Kinder zu haben ist eine große Sache für die meisten Afrikaner." Vor den Zeiten des Klimawandels habe es viel Nahrung in den ländlichen Gebieten gegeben – fünf oder sechs Kinder pro Familie das Minimum. "Wenn eine Frau zehn Kinder bekam, gab es dafür eine große Zeremonie im Dorf."

Diese Vorstellungen wirken bis in die Gegenwart nach, in der viele junge Menschen in die Städte ziehen. "Wenn ein junger Mann ein gewisses Alter erreicht hat und seiner Familie noch keine Frau vorgestellt hat, wird eine Delegation aus dem Heimatdorf zu ihm geschickt – um herauszufinden, was falsch läuft", erzählt sie. "In manchen Fällen wird ihm auch eine Frau aufgezwungen". Da passt auch etwa der Zölibat nicht hinein. "Meine Großmutter hat mir nie verziehen, dass ich Ordensfrau geworden bin", sagt Mbonu. "Denn so habe ich keine Kinder bekommen." Deshalb sei es für viele Menschen dort generell schwierig, sich mit Lebensentwürfen anzufreunden, bei denen es keine Kinder gebe. Ein erster Mosaikstein auf dem Weg zu einer Antwort.

Kein Nord-Süd-Gefälle

Wer beim "Blick in die Welt" nicht nur an Afrika denkt, stößt auf eine ebenso große Vielfalt. Sandra Lassak, heute Referentin für theologische Grundfragen beim Hilfswerk Misereor, hat sieben Jahre in Peru gelebt. In vielen Ländern Lateinamerikas gibt es seit den 1960er Jahren durch die Theologie der Befreiung kleine Basisgemeinden, zudem haben sich Frauen vernetzt und setzen sich für Frauen- und Minderheitenrechte ein. Dagegen sind Regionen anderswo – auch in Europa – noch sehr hierarchisch und patriarchal durch Geweihte geprägt. "Es ist nicht so, dass es da unbedingt ein Nord-Süd-Gefälle gibt", sagt Lassak. Vielmehr gebe es nicht selten die dem Vatikan genehme Meinung des Episkopats und demgegenüber jene von engagierten Laien. In welchem Verhältnis beide ständen, hänge aber oft von den Umständen vor Ort ab, die etwa historischer Natur sind: "Lateinamerika wurde vor 500 Jahren kolonisiert, seit 200 Jahren sind die meisten Länder dort unabhängig. In Lateinamerika hat es viel mehr emanzipatorische Prozesse gegeben." In Afrika waren die meisten Länder noch bis 1960 unter Fremdherrschaft. Die Kolonisatoren hatten die frauen- und homofeindliche Gesetzgebung ihrer Heimat dort implementiert, auch die auf Männer zugeschnittenen Kirchenstrukturen wurden übertragen. Die Emanzipationsbewegungen des Mutterlandes vollzogen die kolonisierten Länder nicht mit. Und dann? "Alles, was mit Sexualität und Reproduktion zu tun hat, bietet sich natürlich immer sehr an, wenn ein patriarchal-klerikaler Machtapparat an der Macht gehalten werden soll", so Lassak. Gerade in Zeiten wachsender gesellschaftlicher Spaltung eigne sich das Gender-Thema zur Instrumentalisierung: "Das ist der neue Kommunismus – daran kann man sich gut abarbeiten."

Heute geht es in den ehemaligen Kolonien Afrikas auch darum, sich von den vormaligen Mutterländern in Europa abzugrenzen. Mit dem Pochen auf "traditionelle Werte und Lebensweisen" gehen nicht zuletzt rechte Politiker gegen gesellschaftliche Veränderungsbemühungen an. Dazu kommt eine Entwicklung, die für die ganze Welt gilt: Kirche wird lokaler, diverser und dezentraler. Überall weltweit wenden sich Menschen schließlich den Freikirchen zu. Da ist zum Teil mehr möglich, etwa für Frauen. Es gibt aber auch jene, die explizit konservativ sind – und sich politisch einbringen. So gilt etwa Uganda als das Land mit den härtesten Gesetzen gegen sexuelle Minderheiten weltweit, in manchen Fällen gilt seit 2023 etwa für Homosexualität die Todesstrafe. Die Kampagnen dafür wurden nicht zuletzt auch von Freikirchen vorangetrieben. Papst Franziskus nannte die Diskriminierung von LGBTQ-Personen in diesem Zusammenhang "eine Sünde" und Gewalt gegen sie inakzeptabel.

Doch es gibt auch immer die anderen: Die "Catholics for Choice" setzen sich weltweit aus ihrem Glauben heraus für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen ein, auch in Sachen Schwangerschaftsabbruch. So hängt im Büro der "Católicas Por el Derecho a Decidir" (Katholikinnen für das Recht auf freie Entscheidung) in Mexiko-Stadt direkt neben einem Marienbildnis ein Schal mit der Aufschrift "Maria wurde gefragt, ob sie die Mutter Gottes werden will". "Natürlich stehen solche Initiativen nicht für die Mehrheitsmeinung", so Lassak. "Aber sie sind Teil des Spektrums und lassen sich nicht wegdiskutieren." Entwicklungen wie in Europa gibt es also weltweit.

Bild: ©Privat, Montage: katholisch.de

Caroline Mbonu (l.) und Sandra Lassak.

Doch die Startbedingungen sind andere, betont Mbonu: "Gesellschaften, in denen es die Aufklärung gab, denken über andere Dinge nach als jene, in denen die Menschen das Alphabet lernen", sagt sie. Zum Vergleich: 2022 waren laut Zahlen der Weltbank im Afrika südlich der Sahara 32,3 Prozent der Menschen über 15 Jahren Analphabeten. In Europa und Zentralasien waren es lediglich 1,6 Prozent. Südasien lag mit 25,8 und der Nahe Osten mit Nordafrika mit 19,6 Prozent dazwischen.

Außerdem bricht über lange als Bauern lebende Gesellschaften eine ganze Welle von Veränderungen herein. Zwischen 1950 und 2010 ist der Anteil der Menschen in Afrika, die in Städten leben, von neun auf 42 Prozent gestiegen. Junge Leute ziehen in Städte, richten ihr Leben nicht mehr an den Vorstellungen ihrer Gemeinschaft und ihrer Familie aus, sondern wollen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Den Individualismus kennen sie aus den Medien, sie sehen ihn bei Tiktok oder Instagram. Die Welt rückt enger zusammen und Lebensmodelle prallen aufeinander: Kinder bedeuten heute deutlich höhere Kosten als früher, sie müssen zur Schule geschickt werden und wollen Smartphones. Das alles fordert die traditionelle Lebensweise heraus und führt zu Spannungen. Und dann kommt noch das große Themenpaket aus Genderrollen, sexuellen Minderheiten und Frauenrechten auf die Menschen zu. Das ist zu viel auf einmal, sagt Mbonu und rät: "Die Leute müssen da hineinwachsen. Dafür brauchen sie Zeit und Unterstützung." Gleichzeitig haben die Menschen etwa in afrikanischen Ländern oft ganz andere Sorgen: Genug Essen zu haben, Dürren, politische Instabilität etwa. "Da geht es um Leben und Tod", sagt Mbonu. Da stehen übergeordnete Themen nicht immer so im Fokus.

Katholikinnen und Katholiken weltweit beschäftigen verschiedene Themen, sie nehmen aus verschiedenen Gründen ganz unterschiedliche Perspektiven ein. Steht die Kirche also vor der Spaltung? Ein Blick auf die anglikanische Gemeinschaft sorgt da bei vielen für Sorgenfalten: Denn jüngst hat ein Bündnis konservativer Kirchen die bisherige Kirchengemeinschaft mit der Erzbischöfin von Canterbury aufgekündigt. Der Grund: Mit Sarah Mullally ist erstmals eine Frau Erzbischöfin von Canterbury. Der nun eskalierte Konflikt ist nicht neu: Bereits beim Primas-Treffen der anglikanischen Kirchenprovinzen vergangenes Jahr in Rom waren neun von 32 Provinzen nicht vertreten – die meisten aus Gewissensgründen. Das Problem: Dass die Kirche von England die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare prüfte. Schon bei der Lambeth-Konferenz 2022, dem großen alle zehn Jahre stattfindenden Treffen hochrangiger anglikanischer Würdenträger, waren Kirchenführer aus dem Globalen Süden nicht erschienen. Erst die Priesterweihe für Frauen, nun die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften – das war zu viel für sie. Der Vorwurf: Die Kirche von England sei "vom anglikanischen Glauben abgekommen" und habe ihre "theologische Legitimität verloren". Themen rund um Frauen und Sexualität haben die anglikanische Gemeinschaft gespalten.

Spaltung gibt es bereits

Könnte sowas auch der katholischen Kirche passieren? Da halten sich beide Theologinnen bedeckt. "Die Spaltung haben wir innerhalb der Kirche bereits – und die macht sich nicht an Erdteilen fest, sondern zwischen konservativ und progressiv", sagt Lassak. Da sei die Art der Diskussion bedeutsam. "Das Argument: 'Mit der Weltkirche sind Öffnungen nicht zu machen', läuft ins Leere." Es gehe darum, die Weltkirche nicht als Totschlagargument zu benutzen, sondern sie in ihrer Vielfalt ernst zu nehmen. Wenn nicht zahlreiche Chancen schon vergeben sind: "Viele dieser Fragen kommen für Europa oder Nordamerika zu spät. Hier haben sich schon viele Menschen von der Kirche abgewendet."

Auch Mbonu verweist auf den Wert des Austauschs weltweit: "Wir können uns über das Internet kennenlernen, Priester aus dem Globalen Süden gehen in den Norden. Das ist für alle eine Bereicherung." Wo früher Missionare aus dem Norden in den Süden kamen, sind es nun Priester aus dem Süden, die in den Norden gehen. Sie spricht da aus eigener Erfahrung, sie war vier Jahre als Missionarin im US-Bundesstaat Louisiana.

„Viele dieser Fragen kommen für Europa oder Nordamerika zu spät. Hier haben sich schon viele Menschen von der Kirche abgewendet.“

—  Zitat: Sandra Lassak

Dabei können Denkanstöße in beide Richtungen hilfreich sein. Mbonu erzählt zum Beispiel von Familienversammlungen in ihrer Kindheit: "Wenn eine Entscheidung anstand, hat mein Großvater alle zusammengerufen, um darüber zu beraten. Männer, Frauen, Kinder – alle. Denn es ging um ein wichtiges Familienthema. Jeder war da und durfte sprechen: Ich habe gesprochen, mein sechsjähriger Bruder hat gesprochen. Und wir sollten alle einander zuhören." Das wünscht sie sich auch für die Kirche – eine neue Kirchenkultur. Denn etwa die Perspektive von Frauen auszublenden, führe ins Leere. "Sie gebären Kinder, sie sind die ersten, die den Glauben weitergeben – auch wenn sie keine Priesterinnen oder Diakoninnen sind."

In der katholischen Welt ist es am Ende auch der Papst, der eine gewisse Form von Zusammenhalt stiftet. Doch auch hier ist die Vielfalt gestiegen: Nach Jahrhunderten mit ausschließlich italienischen Amtsinhabern folgen auf den Polen Johannes Paul II. der Deutsche Benedikt XVI., der Argentinier Franziskus und der US-Amerikaner Leo XIV. Am Ende bleibt die Frage: Wie viel Vielfalt hält die Kirche aus? Vielleicht liegt die Antwort – paradoxerweise – genau in ihr: in der Fähigkeit, Unterschiedlichkeit nicht als Bedrohung, sondern als Reichtum zu begreifen.

Von Christoph Paul Hartmann