Operation Weißer Riese
Schon seit 1979 steht die frühgotische Bischofskirche auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes - als einer der allerersten Einträge überhaupt. Allein das mag schon den kunsthistorischen Rang belegen. Über 130 Meter lang ist das damals sensationell neuartige Gotteshaus; es wirkte stilbildend für viele gotische Kathedralen Frankreichs.
Größter Schatz ist die kostbarste Sammlung mittelalterlicher Glasmalereien weltweit. Mit seinen Szenen aus der Bibel und seinen Heiligendarstellungen ist das "Universum von Chartres" ein echtes Bilderbuch; die ältesten stammen aus dem 12. Jahrhundert. Das "Blau von Chartres" ist sprichwörtlich; wunderschön leuchtend etwa in der Madonnendarstellung des Monumentalfensters "Notre-Dame de la Belle Verriere". Etwa 1,3 Millionen Besucher, davon rund 300.000 Pilger, kommen pro Jahr.
Teuerste Renovierung in der französischen Geschichte
Seit 2009 wird die Kathedrale einer umfassenden Innenrenovierung unterzogen. Mit veranschlagten rund 14 Millionen Euro wird sie die teuerste überhaupt in der langen Geschichte Frankreichs sein. Doch die extreme Aufhellung des Raums, im Chor bereits vollzogen, gefällt nicht allen Kunstexperten - vor allem auswärtigen. Sie vermissen den atmosphärischen Zauber, das mystische Spiel des einfallenden Lichts auf dem über Jahrhunderte rußgeschwärzten Mauerwerk.
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1989 war es ausgerechnet ein Deutscher, der den Stein von Chartres ins Rollen brachte. Im Jahr des Mauerfalls publizierte der Kunsthistoriker Jürgen Michler seine Entdeckung unter mehreren Putzschichten: Spuren einer ursprünglichen hellen Bemalung, die regelmäßige Steinfugen imitierten. Die nationale Denkmalbehörde war begeistert - und setzte das vermeintliche ursprüngliche Raumkonzept radikal um. Bis zum Jahresende soll die Operation Weißer Riese abgeschlossen sein. Viele Besucher teilen die Begeisterung. Kritiker dagegen fürchten eher eine aseptische Disneyland-Optik und stellen die alte Frage des Denkmalschutzes: Wie weit darf Restaurierung gehen?
Eugene Viollet-le-Duc (1814-1879), der französische Restaurator, Architekt und Bauforscher, war die Überfigur der frühen Denkmalpflege in Europa. Die Französische Revolution und ihre Nachkommen hatten unzählige Kirchen und Klöster zerstört. Schlösser, Paläste und Adelssitze wurden geplündert, angezündet, verwüstet. Und schon vorher waren Gebäude über Jahrhunderte nicht instand gehalten worden. Viollet-le-Duc: "Tatsächlich hat in vergangenen Zeiten keine Kultur, kein Volk Restaurierungen unternommen, wie wir sie heute verstehen."
Zu "restaurieren" bedeutete für den puristischen Perfektionisten nicht, ein Bauwerk zu erhalten oder zu reparieren, sondern es "in einen Zustand der Vollkommenheit zurückzuführen, der vielleicht nie zuvor existiert hat". Stilreinheit in der ursprünglichen Konzeption des Baus, Rekonstruktion zerstörter Teile - unter Inkaufnahme der Auslöschung späterer Zutaten und einmaliger historischer Spuren: Diesen Weg ist er konsequent gegangen.
"Gehaust wie ein Bildersturm"
Generationen von Denkmalpflegern haben sich an Viollet-le-Duc abgearbeitet. In England verfolgte John Ruskin (1819-1900) das genau entgegengesetzte Konzept: Konservierung, also Erhalt und Sicherung im überlieferten Bauzustand - selbst als Ruine. In Deutschland beklagte Paul Clemen (1866-1947) allzu viele Denkmalzerstörungen durch "falschen Eifer". Die "unselige Periode der stilreinen Wiederherstellungen" habe "gehaust wie der Bildersturm".
Stefan Zweig (1881-1942) schrieb einst über Chartres: "Ehrfürchtig spürt man hier den 'Geist der Gotik', das Jahrhundert des Glaubens und der Geduld, ein Jahrhundert, das nicht wiederkehrt. Denn nie werden solche Werke in unserer Welt wieder entstehen, die mit anderen Maßen die Stunden zählt und hinlebt in anderen Geschwindigkeiten: Die Menschen bauen keine Dome mehr." Umso wichtiger, dass die, die es schon gibt, ihren Zauber nicht verlieren.