Seelsorger Michael Stern über die Folgen des Loveparade-Unglücks

"Für die Betroffenen ist es ein Super-Gau"

Veröffentlicht am 06.04.2016 um 10:51 Uhr – Von Kilian Martin – Lesedauer: 
Blick in den Karl-Lehr-Tunnel am 20. Juli 2015 in Duisburg. Dort stauten bei der Loveparade am 24. Juli 2010 die Menschenmassen. 21 Menschen fanden durch eine Massenpanik den Tod, über 500 Menschen wurden schwer verletzt.
Bild: © KNA
Katastrophen

Bonn ‐ Pater Michael Stern hatte seinen schwersten Einsatz als Notfallseelsorger bei der Loveparade-Katastrophe in Duisburg im Jahr 2010. Im Interview mit katholisch.de berichtet er, wie schwer es war, seinen Frieden mit diesem Erlebnis zu schließen.

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Frage: Pater Michael, Sie haben die Loveparade-Katastrophe im Juli 2010 aus nächster Nähe als Notfallseelsorger erlebt. Wie lief das damals ab?

Stern: Ich war als erster Seelsorger am Tunnel. Dort bin ich auf die ersten Einsatzkräfte getroffen, die schon völlig am Ende waren und bin dann mit ihnen da rausgegangen. Es war nicht geplant, dass ich mich hauptsächlich um Einsatzkräfte gekümmert habe. Später habe ich die Seelsorge für alle Einsatzkräfte vor Ort organisiert.

Frage: Wie schnell konnten Sie diesen Einsatz für sich abschließen?

Stern: Das ist schwer zu sagen. Ich habe hinterher selbst Supervision in Anspruch genommen, um über alles noch einmal zu sprechen und es zu reflektieren. Ich hatte etwa zehn, zwölf Sitzungen. Vier Monate hat mich das dann schon noch sehr beschäftigt.

Frage: Wie sind die Einsatzkräfte, die Sie betreut hatten, mit der Katastrophe später zu recht gekommen?

Stern: Wir hatten damals nur die Erstversorgung gemacht. Viele haben dann in ihrem Verband in der Heimat noch Betreuung in Anspruch genommen. Ein kleinerer Teil musste auch zu Psychotherapeuten. Aber sie haben es alle, soweit ich das mitbekommen habe, gut überstanden.

Prämonstratenserpater Michael Stern ist seit seiner Jugend bei den Maltesern aktiv. Bei der Loveparade-Katastrophe in Duisburg war er als Notfallseelsorger im Einsatz.
Bild: ©Privat

Prämonstratenserpater Michael Stern ist seit seiner Jugend bei den Maltesern aktiv. Bei der Loveparade-Katastrophe in Duisburg war er als Notfallseelsorger im Einsatz.

Frage: Wie wichtig ist eine sachliche Aufarbeitung der Geschehnisse auch heute noch, fünfeinhalb Jahre nach der Katastrophe, um diese abschließen zu können?

Stern: Ob man das alles wirklich rekonstruieren kann, halte ich für fraglich. Da ist Vieles nicht richtig gelaufen, gar keine Frage. Es war eine Aneinanderreihung von Unglücksgeschichten, im Vorfeld gab es aber auch schon Planungsfehler; das wissen wir alle. Die Leute wollen auch Gerechtigkeit, sie wollen einen Schuldigen haben. Aber es wird kaum mehr möglich sein, so eine Schuld festzustellen. In dem Fall ist für die Betroffenen, die einen Angehörigen verloren haben, die Trauerarbeit ganz wichtig.

Frage: Das Landgericht in Duisburg hat am Dienstag entschieden, das Strafverfahren gegen zehn Angeklagte nicht zur Verhandlung zuzulassen. Nach Ansicht des Gerichts gab es keine ausreichenden Hinweise, dass es zu einer Verurteilung kommen könnte. Können Sie verstehen, dass viele Geschädigte und Hinterbliebene sehr enttäuscht sind, sogar von einem Justizskandal sprechen?

Stern: Ja, gefühlstechnisch kann ich das sehr gut verstehen. Aber ich bin kein Jurist, ich kann das fachlich nicht beurteilen.

Frage: Hätten Sie sich gewünscht, dass es zu diesem Verfahren kommt?

Stern: Letztendlich ja. Um Klarheit zu schaffen. Für die Betroffenen ist es natürlich ein Super-Gau, dass das Verfahren geplatzt ist.

Frage: Inwiefern?

Stern: Die alten Wunden werden so noch einmal aufgerissen. Es gibt wieder keinen Schuldigen, es kommt nichts zu Ruhe. Alles wird noch einmal aufgewühlt. Die Klarheit ist nicht da. Aber die braucht man, um seinen Frieden zu schließen mit diesem Unglück.

Hintergrund

Bei der Loveparade-Katastrophe in Duisburg am 24. Juli 2010 kamen 21 Menschen ums Leben, über 500 wurden zum Teil schwer verletzt. Anfang 2014 hatte die Staatsanwaltschaft Duisburg Anklage wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung gegen zehn Mitarbeiter der Stadt und des Veranstalters erhoben. Am Dienstag entschied das Landgericht Duisburg, die Klage nicht zur Verhandlung zuzulassen. Als Begründung nannte das Gericht gravierende Mängel im Gutachten, auf das sich die Anklage stützt. (kim)

Frage: Braucht man tatsächlich ein Gericht, um diesen Frieden zu schließen? Oder ist das nicht etwas, das man mit sich selbst ausmachen muss?

Stern: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Menschen müssen lernen, damit umzugehen. Der Verlust ist schlimm, gar keine Frage. Der Jahrestag wird für die Betroffenen immer schlimm sein. Aber das muss mit der Zeit auch abklingen. Die Katastrophe muss ein Teil meines Lebens sein, von dem ich bestimmen kann, wann ich ihn anschaue und wann nicht. Ich entscheide selbst, wann ich das "Fotoalbum Loveparade" aufschlage und die Bilder ansehe und ich entscheide, wann ich es wieder zuschlage. An diesen Punkt müssen die Opfer und Angehörigen kommen. Man muss einen Schlusspunkt setzen.

Frage: Kann das nicht auch ohne konkrete Schuldige gehen? Braucht es dazu wirklich Verurteilte?

Stern: Nein, ich glaube nicht. Es erleichtert die Sache natürlich, denken wir an das Sündenbock-Prinzip aus dem Alten Testament. Wenn ich klar sagen kann: Der ist schuld. Aber das Loveparade-Unglück ist wie ein undurchsichtiger Nebel. Und wahrscheinlich wird es immer so bleiben.

Frage: Wie oft schlagen Sie noch das "Fotoalbum Loveparade" auf?

Stern: So gut wie gar nicht mehr. Am Jahrestag denke ich noch daran und schließe es dann auch in das Gebet ein. In Fürbitten in meiner Pfarrei bete ich für alle Teilnehmer, für die Verstorbenen, die Betroffenen, Rettungskräfte und auch für die Veranstalter.

Zur Person

Pater Michael Stern O.Praem. ist derzeit Seelsorger in der Pfarrei St. Augustinus Magdeburg und gehört der Duisburger Abtei Hamborn an. Im Jahr 2010 war er der katholische Beauftragte für die Notfallseelsorge in der Stadt Duisburg. Am 24. Juli 2010, dem Tag der Loveparade-Katastrophe, war er diensthabender Notfallseelsorger.
Von Kilian Martin