Die Sache mit dem "Nein"
Eine große Rolle in der Debatte spielte die sogenannte Istanbul-Konvention des Europarates von 2011: Sie ist ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und schreibt dazu präventive Maßnahmen, Opferschutz und Strafverfolgung vor. Außerdem verlangt sie, dass in jedem Staat, der sie unterzeichnet, jegliche nicht einverständliche sexuelle Handlung strafbar sein soll. Deutschland muss die Konvention noch ratifizieren. Doch es gibt Zweifel daran, dass die derzeitige Gesetzeslage dafür ausreichend ist. Kritiker führen zum Beispiel an, dass der Paragraf 177 des Strafgesetzbuches (StGB), der sexuelle Nötigung und Vergewaltigung behandelt, dies nicht ausreichend abdecke. Danach müsse sich eine Person wehren; es reiche für den Tatbestand nicht aus, wenn sie sich nur gegen die sexuellen Handlungen ausspräche oder durch ihr Handeln wie etwa Weinen zeige, dass sie nicht einverstanden sei. Um sich strafbar zu machen, müsse der Täter darüber hinaus Gewalt angewandt, dem Opfer angedroht oder seine objektiv schutzlose Lage ausgenutzt haben – vorherige Gewalterfahrungen des Opfers reichten dazu nicht. Außerdem seien Überraschungsfälle nicht erfasst – Fälle, in denen das Opfer so überrumpelt wird, dass es den Täter nicht abwehrt.
Auch die Vorfälle in der Silvesternacht 2015/2016 am Kölner Hauptbahnhof, in der Frauen in einer Menschenmenge begrapscht und beraubt wurden, befeuerte die öffentliche Debatte: Viele, darunter Frauenrechtlerinnen und Betroffenenverbände, fordern nun, das Begrapschen zu einem eigenständigen Straftatbestand zu machen. Bisher ist dieses sexuell motivierte Anfassen an sich meist nicht strafbar. Gegner der Gesetzesänderung finden die bisherige Gesetzeslage jedoch weitgehend ausreichend. Sie warnen vor einer Überregulierung und befürchten eine Schwemme von Falschanzeigen und Racheverfahren. Außerdem sei gerade beim Begrapschen die Beweis- und Verfolgbarkeit schwierig.
Begrapschen als eigener Straftatbestand
Bereits 2015 hatte das Bundesjustizministerium in einen Entwurf insbesondere die Paragrafen 177 und 179 StGB – letzterer behandelt den sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen – angepasst. Doch viele Frauenrechtler sahen darin vor allem den Grundsatz "Nein heißt nein" nicht umgesetzt, außerdem vermissten sie das Begrapschen als eigenen Straftatbestand. Sie verfassten einen Änderungsantrag, über den der Bundestag, zusammen mit dem Gesetzentwurf, am Donnerstag in zweiter Lesung beraten wird. Auch katholische Frauenverbände, die sich an der Debatte beteiligt haben, schauen mit Spannung auf den Ausgang dieser Beratung: Renate Jachmann-Willmer wird sogar versuchen, in Berlin dabei zuzuschauen. "Uns liegt schon sehr lange daran, dass wir ein Sexualstrafrecht bekommen, das einen Paradigmenwechsel vornimmt", meint die Bundesgeschäftsführerin des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF). Dabei gehe es vor allem um eine Klarstellung: "Es gibt viele sexuelle Übergriffe, die einfach nicht verurteilt werden können, weil die Frau sich nicht gewehrt hat oder weil keine Gewalt angewandt worden ist. Jeder sexuelle Übergriff gegen den erkennbaren Willen einer Person muss strafbar sein."
Genau das ist ein Kritikpunkt der Reformgegner. Wie soll dieser Wille immer eindeutig erkannt, welche Halbwertszeit soll ihm gegeben werden? Und was, wenn es sich das Opfer im Nachhinein anders überlegt? Der Befürchtung, Frauen könnten künftig etwa aus Rache ihren Ex-Partner der Vergewaltigung anzeigen, entgegnet sie: "Es gibt den Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren. Das heißt, auch wenn sich das Gesetz ändert, muss noch bewiesen werden, dass der Mann erkennen konnte, dass die Frau nicht wollte." Sie glaubt nicht, dass sich Anzahl der Verurteilungen stark ändern werde, weil die Übergriffe häufig intime Situationen seien, bei denen kein Zeuge dabei sei. Dennoch: Das sei die Chance, "unser Sexualstrafrecht in dem Punkt so anzupassen, wie es unserer Wertvorstellung entspricht. Es geht um die Würde einer Person."
Welche Auswirkungen das hat, erlebt Jachmann-Willmer durch ihre Arbeit: Der SkF kommt durch seine verschiedenen Dienste, etwa in der Schwangerenberatung, der Jugendhilfe und den Interventionsstellen bei häuslicher Gewalt, mit betroffenen Frauen in Berührung. "Wir wissen, wie schlimm eine solche Erfahrung für Frauen ein Leben lang ist. Es ist schwer für sie, eine Anzeige zu erstatten, weil sich diese Frauen schämen und per se die Schuld bei sich suchen." Als Schwierigkeit komme hinzu, dass die Mehrheit dieser Übergriffe im sozialen Nahbereich, also im Familien- oder Freundeskreis, geschehe. "Frauen sind zu jeder Zeit ihres Lebens solchen Angriffen ausgesetzt." Zudem setze sich der SkF auch für den eigenständigen Straftatbestand des Begrapschens ein: Ein Griff zwischen die Beine oder an den Busen – das sei eine erhebliche Tat gegen die sexuelle Selbstbestimmung. "Mit einem eigenständigen Straftatbestand haben wir auch da Klarheit und müssen nicht über die Erheblichkeitsschwelle reden."
Schwester Lea Ackermann, Gründerin und Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation SOLWODI Deutschland e.V., freut sich über die anstehende Reform. "Es ist auf jeden Fall eine Aufwertung und Würdigung der Frau, wenn es ausreichen wird, dass die Frau nein sagt." Das sei gerade in den Fällen hilfreich, wenn das Opfer zwar "nein" sage, sich dann aber nicht körperlich den Übergriffen entgegensetze. "Manche sind von Kind an an Übergriffe, beispielsweise durch den Vater, gewöhnt, und wehren sich deshalb nicht." Eine Revolution sei die Gesetzesreform zwar nicht, aber doch eine grundlegende Einstellungssache – die, wie sie findet, schon bei der Kindererziehung ansetzen müsse.
Feiern gehen, ohne angemacht zu werden
Die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) hat eine Reform des Sexualstrafrechts begrüßt. "Vor allem durch die Vorfälle in Köln sind Lücken im Strafrecht deutlich geworden", meint Heide Mertens, Leiterin der Abteilung Politik und Gesellschaft in der kfd-Bundesgeschäftsstelle. "Bestimmte Vorfälle wie etwa das Begrapschen, die in der Öffentlichkeit oder im privaten Bereich passieren und von den Frauen als Straftat empfunden werden, sind bisher nicht strafbar." Das habe viele Frauen in der kfd bewegt, sie hätten angefragt, ob sich der Verband für eine Verschärfung des Strafrechts einsetzen könnte. "Das war wie ein Erwachen. Schon traurig, dass es erst durch diesen Kontext passiert ist." In einer Stellungnahme zu dem seit April vorliegenden Gesetzentwurf von Justizminister Heiko Maas setzte die kfd sich deshalb nicht nur für die Schließung der Gesetzeslücken ein, sondern auch für einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht, der schon lange von Frauenverbänden gefordert wird: "Wir wollen, dass es für den Straftatbestand einer Vergewaltigung grundsätzlich nicht notwendig ist, sich zu wehren, sondern dass es ausreicht, wenn man 'nein' sagt", so Mertens. Nun bleibe abzuwarten, wie die Umsetzung der Gesetzesreform in der juristischen Praxis aussehen werde. Doch da ende die Arbeit nicht: Genauso wie bei der Debatte um die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, die erst 1997 mit der außerehelichen Vergewaltigung rechtlich gleichgestellt wurde, brauche es einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft. "Das kann durch gesetzliche Vorgaben befördert werden", meint Mertens. "Es muss für eine Frau möglich sein, feiern zu gehen, ohne angemacht zu werden."