Mutter und Teenie-Tochter pilgern gemeinsam auf dem Wunderblutweg

Mit Siri unterwegs zu Gott

Veröffentlicht am 18.07.2016 um 00:01 Uhr – Von Silvia Teich – Lesedauer: 
Pilgern

Berlin ‐ Pilgern und Pubertät - das geht doch gar nicht, oder? Unsere Autorin hat es trotzdem ausprobiert. Zusammen mit ihrer 14-jährigen Tochter ist sie 130 Kilometer zu Fuß ins nordwestliche Brandenburg gepilgert.

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Die Strecke ist ein Pilgerweg aus dem Mittelalter und Teil eines Netzes von Jakobswegen, die durch die Mark Brandenburg führen. Alle diese Wege haben nur ein Ziel: Santiago de Compostela in Spanien. Bis dort wären es über 2.000 Kilometer. Uns reichen erst mal die gut 130 bis Bad Wilsnack. Das 2.700-Einwohner-Städtchen war im Mittelalter ein berühmtes Pilgerziel und wird darum auch als "Santiago des Nordens" bezeichnet. Kein Pilgerort in Nordeuropa war bedeutender. Jedes Jahr zogen um die 100.000 Wallfahrer aus Skandinavien, den britischen Inseln, Deutschland, den Niederlanden und Osteuropa nach Wilsnack.

Die Pilger kamen, um das "Blutwunder" zu schauen. Nachdem ein Ritter die Kirche des Ortes im Jahr 1383 niedergebrannt hatte, fand der Priester in der Asche drei unversehrte geweihte Hostien, auf denen sich rote Flecken zeigten - Blutstropfen, wie man glaubte. Das Blutwunder von Wilsnack war geboren. Die Reformation ließ den Pilgerstrom schließlich versiegen. Aber noch heute zeugt die mächtige Wunderblutkirche St. Nikolai, die mit den Spenden der Pilger errichtet wurde und für den kleinen Ort völlig überdimensioniert ist, von der alten Zeit.

Pilgern mit S-Bahn-Anschluss

Dieser Zeit wollen wir nachspüren. Wir haben aber auch noch einen anderen Grund für unsere Reise. Siri wird in wenigen Wochen 14. Ihre Berliner Klassenkameraden feiern jetzt Jugendweihe und Konfirmation. Wir gehen stattdessen pilgern. Mir gefällt der Gedanke, mit meiner Tochter noch einmal ganz intensiv einen Weg zu gehen, bevor sie sich dann bald auf ihren eigenen machen wird.

Auch eine weite Reise beginnt mit dem ersten Schritt, heißt es. Unsere beginnt mit der Berliner S-Bahn. Mit Pilgerstab und dem Nötigsten im Rucksack - Schlafsack, Wechselsachen, Zahnbürste, Notfall-Handy, Energie-Riegel - fahren wir nach Hennigsdorf vor der Toren der Hauptstadt. Pilgern mit S-Bahn-Anschluss, den Wallfahrern des Mittelalters hätte das sicher gefallen. Die wenigsten waren damals freiwillig unterwegs, viele wurden von Gerichten zum Pilgern verurteilt oder waren Lohnpilger, die für die Sünden reicher Leute Buße taten.

Die Wunderblutkirche von Bad Wilsnack überragt die Stadt und ist weithin zu sehen.
Bild: ©picture alliance / ZB

Das Ziel von Silvia Teich und ihrer Tochter Siri: Die Wunderblutkirche in Wilsnack.

In Hennigsdorf entdecken wir bald die Markierung des Wunderblutwegs: drei orangefarbene Hostien, die zu einem Dreieck angeordnet sind. Es soll uns bis Bad Wilsnack leiten. Die ersten Kilometer sind flott zurückgelegt. "Siehst du Mama, ich hab's dir doch gesagt", stichelt Siri. "Du traust mir einfach nie etwas zu!" Zwölf Kilometer geht es durch den Krämer-Forst. Wir fühlen uns großartig. Die Tagesetappe von insgesamt 26 Kilometern schaffen wir mit links, glaube jetzt auch ich. Aber irgendwie will der Wald kein Ende nehmen. Stimmt überhaupt die Richtung? "Mama gib mal dein Smartphone, da ist ein Kompass drauf", sagt Siri. Wie gut, einen Digital Native dabei zu haben, denke ich und hole unser Notfall-Handy aus dem Rucksack.

Wir futtern Müsli-Riegel, bis uns von dem süßen Zeug schlecht wird. Aber wir haben nichts anderes dabei. Also knabbern wir Sauerklee, Knoblauchsrauke und Löwenzahn vom Wegesrand und kommen uns vor wie beim Survival-Training. Wir sehen über viele Stunde keine anderen Menschen. Dafür aber einen Schwarzspecht, Eichhörnchen und viele Rehe. Am Ende des Waldes müssen wir einen Umweg nehmen, weil eine Überführung über die Autobahn nach Hamburg gesperrt ist. Das wussten wir schon aus dem Internet. Aber nicht, wie viele Kilometer zusätzlich das bedeuten würde. Unsere Tagesetappe von 26 Kilometern verlängert sich auf über 30.

Zähe und willensstarke Teenie-Tochter

Das ist selbst meiner optimistischen Siri zu viel. Kreidebleich vor Erschöpfung taumelt sie neben mir her. "Ich kann nicht mehr, Mama", murmelt sie. Die Rucksäcke drücken, wir schwitzen in der Nachmittagshitze, ich spüre die erste Blase am kleinen Zeh. Da tröstet es auch nicht, dass unsere Tagesziel, das Dorf Flatow, schon in Sichtweite ist. Die Pilgerherberge von Flatow ist der Gemeindesaal des Pfarrhauses. Wir holen uns den Schlüssel, schieben die Tische zur Seite und klappen Feldbetten auf. Eine Dusche gibt es nicht. Völlig egal, nach dieser Tortur wollen wir nur noch in unsere Schlafsäcke.

Am nächsten Morgen schmerzen unsere Beine bei jeder Bewegung. Besonders mein linkes Knie scheint pilgern für gar keine gute Idee zu halten. Steifbeinig humpeln wir nach einem kargen Frühstück weiter auf dem Weg, den uns das Pilgerzeichen weist. Die ersten Kilometer sind die Hölle. Jeder Schritt schmerzt, und wir kommen kaum voran. Alle paar hundert Meter müssen wir Pause machen. Wenn das jetzt jeden Tag so ist, kommen wir nie an, denke ich. Aber Siri will nicht aufgeben. Meine Teenie-Tochter erweist sich als ungeahnt zäh und willensstark. Also weiter.

Pilgern: Auf dem Weg zu Gott

Die Nähe Gottes spüren - das ist das Ziel vieler Gläubiger, die sich zu religiösen Stätten in aller Welt aufmachen. Jährlich begeben sich etwa 40 Millionen Christen auf eine Pilgerreise. Katholisch.de stellt die Tradition der Wallfahrt, wichtige Bräuche und bekannte Pilgerziele vor.

Zwischendurch geht uns das Wasser aus. Kein Dorfladen weit und breit, dafür ein kleiner Friedhof mit Wasserstelle. Zwischen Gießkannen und Gräbern füllen wir unsere Flaschen auf. Im Storchendorf Linum besichtigen wir die Kirche mit dem imposanten gotischen Staffelgiebel. "Ihr Reiseführer lügt", klärt uns Schwester Anneliese auf, als sie uns durch die Kirche führt. "Der Weg ist das Ziel? Das kann ja wohl nicht stimmen. Jesus sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben", betont die resolute Ordensfrau und gibt uns noch mahnend mit auf den Weg: "Ohne Gott geht alles bankrott!"

Bankrott fühlen sich auch unsere Beine an. Aber langsam gewöhnen wir uns wieder ans Gehen und haben Augen für die Landschaft, die immer einsamer wird, je weiter wir uns vom Berliner Ring Richtung Westen entfernen. Wir durchqueren das Rhinluch, ein früheres Moorgebiet, das König Friedrich II. einst trocken legen ließ. Die weiten Wiesen und Felder sind durchzogen von Fließen, die das Gebiet entwässern und von hohen Erlen und Pappeln gesäumt werden. Kein Auto, kein Flugzeug ist zu hören. Dafür begleitet uns der Kuckuck auf unserem Weg, Nachtigallen trällern in Weißdornhecken, über den Wiesen steigen Feldlerchen empor. Rotmilane schrauben sich in der Mittagswärme in die Höhe. Reiher, Störche und ein paar Kraniche ziehen vorbei. Selbst in dieser Menschenleere finden wir immer wieder unser Zeichen, aufgesprüht auf mächtige Stämme von Bäumen, die an Weggabelungen stehen. Das ist jedes mal eine große Erleichterung: Wir sind noch auf dem richtigen Weg.

Duschen in der Kirche

Eine Kopfweidenallee führt uns nach Barsikow, wo die Kirchengemeinde eine Pilgerherberge im Glockenturm der mittelalterlichen Feldsteinkirche eingerichtet hat. Zehn Schlafplätze gibt es im Fachwerkturm. Wir sind die einzigen Gäste. Der Herbergsvater, Herr Grützmacher, hat uns den Kühlschrank mit Brot, Käse, Wurst, Gurken und Tomaten gefüllt. Ein unverzichtbarer Service, denn Läden oder Gasthäuser gibt es weit und breit nicht. Die Gemeinde hat sogar eine Dusche in die Kirche eingebaut. Aus der Nasszelle tritt man direkt ins Kirchenschiff. "Danke für die heiße Dusche beim lieben Gott", hat ein Gast augenzwinkernd ins Pilgerbuch von Barsikow geschrieben.

Wir schlafen traumhaft unter den über 500 Jahre alten Glocken, die im Stockwerk über uns hängen und beim abendlichen Sechs-Uhr-Läuten den ganzen Turm vibrieren lassen. Am Morgen bringt Herr Grützmacher Brötchen und selbstgemachte Brombeermarmelade. Er lädt uns zu einer kleinen Morgenandacht ein. Wir nehmen in den Kirchenbänken Platz und singen gemeinsam: "Danke für diesen guten Morgen..."

Bild: ©Silvia Teich

Je weiter Silvia Teich und ihre Tochter auf ihrem Weg vorankommen, desto mehr füllen sich ihr Pilgerpässe mit Stempeln.

Kurz danach sind wir wieder auf dem Weg. Mit jedem Tag stecken wir die 20 bis 25 Kilometer besser weg. Manchmal schmerzen die Füße. Dann legen wir uns eine halbe Stunde auf eine Wiese und schauen den Wolken zu. Wir haben Zeit. Das ist überhaupt das Beste an dieser Art zu reisen. Solange man abends an der nächsten Herberge ankommt, ist alles gut. Beim Gehen kommen wir intensiv miteinander ins Gespräch - es gibt ja auch nicht viel, was uns ablenken könnte. Berlin, Internet, Schule und Arbeit, das scheint uns unendlich weit weg.

Außer für die Natur begeistern wir uns für die kleinen Dorfkirchen an der Pilgerroute, die alle aus dem Mittelalter stammen. Jede hat etwas ganz Besonders: In Protzen gibt es einen kunstvoll geschnitzten Taufengel, in Kyritz einen romanischen Taufstein, in Berlitt eine barocke Engeldecke, in Görike einen Marienaltar mit einem frechen Jesuskind: Schelmisch hält es der Friedenstaube den Schnabel zu, während Maria den Streich ihres Sohnes sanftmütig belächelt. In den Kirchen gibt es auch die Pilgerstempel. Langsam füllen sich unsere Pilgerpässe.

Wehmut in Wilsnack

Wir sehen wenige Menschen. Und wenn, sprechen Sie uns an, fragen, wie lange wir schon unterwegs sind, woher wir kommen. Einmal sagt ein älterer Herr: "Sie bringen wohl Ihre Tochter auf den Weg." Ja, so könnte man es wohl nennen. Die letzte Tagesetappe ist uns dann fast zu kurz, obwohl sie genauso lang ist wie die anderen. Als wir unser Ziel Bad Wilsnack von weitem sehen, müssen wir uns eine Weile hinsetzen, um zu begreifen: Wir haben es tatsächlich geschafft. 130 Kilometer haben wir in sechs Tagen zu Fuß zurückgelegt. Ich bin wahnsinnig stolz auf meine Tochter, die viel mehr Biss bewiesen hat als ich ihr je zugetraut hätte.

In der Wunderblutkirche von Bad Wilsnack holen wir uns unseren letzten Pilgerstempel ab. Ein wenig Wehmut schwingt mit. Bei mir zumindest, Siri freut sich, wieder nach Hause zu kommen, verpasste Folgen ihrer Lieblingsserien gucken zu können und Freundinnen zu treffen. "Aber cool war es schon", meint sie dann doch. Ich wäre gern noch weiter auf dem Pilgerweg gewandert. Gut 2.000 Kilometer bis Santiago de Compostela? Das scheint mir jetzt gar nicht mehr so unerreichbar. Die ersten 130 Kilometer haben wir ja schon geschafft.

Von Silvia Teich