90 Jahre Lateranverträge: Der "Erfinder" des Vatikanstaats
Die "Römische Frage" als offener Konflikt zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl hatte sich am 20. September 1870 infolge des Verlustes der territorialen Souveränität nach dem Untergang des Kirchenstaats in brisanter Weise zugespitzt. Seitdem protestierten die Päpste gegen ihre rechtliche und faktische Situation. In offenkundigem Kontrast zur Vielzahl von Lösungsvorschlägen bis hin zur Verlegung des Heiligen Stuhls außerhalb Italiens stellten die Päpste selbst den natürlichen Sitz des Papsttums in Rom nicht infrage. Papst Benedikt XV. wollte sich als friedensstiftender Akteur etablieren und war bestrebt, Unparteilichkeit zu wahren.
Die politische Lage nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs spitzte sich 1915 nach dem Abzug der Botschaften der Mittelmächte aus Rom zu und lenkte den Blick der Weltöffentlichkeit auf die akut gewordene "Römische Frage" bzw. die Situation des Papstes in Rom. Die Friedensbemühungen von Benedikt XV. legten nach Ausbruch des italienisch-österreichischen Krieges sowie nach dem Beitritt Italiens zum Londoner Abkommen die Aufnahme der "Römischen Frage" als Gegenstand anstehender Friedensverhandlungen nahe.
Schriftleiter der "Stimmen der Zeit"
Franz Ehrle wurde 1845 im württembergischen Isny geboren, studierte von 1873 bis 1876 im Jesuitenkolleg in Ditton Hall, Liverpool, wurde dort 1876 zum Priester geweiht und blieb bis 1877 in England. Seit 1880 war er in Rom Mitarbeiter der Vatikanischen Bibliothek, veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und war von 1895 bis 1914 Präfekt der Vatikanischen Bibliothek. Als Deutscher musste Ehrle nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs Rom verlassen und war bis 1918 von Feldkirch und München aus Schriftleiter der Jesuitenzeitschrift "Stimmen der Zeit". Damals – also mitten im Ersten Weltkrieg – schaltete sich Franz Ehrle von München aus in die öffentliche Debatte ein.
Er bezog sich in seinem 1916 veröffentlichten Artikel auf eine Mitteilung des Kardinalstaatssekretärs Pietro Gasparri an die Zeitung "Corriere d’Italia" vom 28. Juni 1915. Darin hatte Gasparri in der Zusammenfassung Ehrles deutlich gemacht, dass alle von den "drei abstrakten Möglichkeiten: Wiederherstellung des ganzen Kirchenstaates, Rückgabe Roms, Zuweisung der rechtstiberinischen Zone, als von Benedikt nicht gefordert ausscheiden müssen". Ehrle stellte vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs fest: "Bei der gegenwärtigen Weltlage ist ein Kirchenstaat zur Wahrung der Würde und der Unabhängigkeit des Papstes unerlässlich."
Konkrete Vorstellungen für eine realpolitische Lösung
Als "Insider" schloss der Jesuit eine Wiederherstellung des vormaligen Kirchenstaats bzw. eine Rückerstattung zumindest der Stadt Rom an die Päpste als absolut unrealistisch aus. Stattdessen schlug er eine realpolitische Alternative vor und veranschaulichte diese mit einer Karte.
Konkret sah Ehrle ein abgegrenztes Gebiet vor, bestehend aus "der sehr unbedeutenden Abrundung des gegenwärtig dem Papste zum Gebrauch bereits eingeräumten vatikanischen Gebietes, welche mir mehr als wünschenswert erscheint. Die Linie von der Fassade der St. Petersbasilika bis zur Porta Cavalleggeri und anderseits von der Schweizerkaserne bis zur ehemaligen Porta Angelica würde das von allen andern Seiten durch die Mauern Leos IV., Nikolaus’ III. und Pius’ IV. umgrenzte Gebiet so abschließen, dass bei dieser Grenzenführung nur durch die Linie von der Fassade vor St. Peter zur Porta Cavalleggeri eine Strecke von unbedeutender Ausdehnung dem 1870 festgesetzten Gebiet angegliedert würde, das Gebiet nämlich, welches sich von dieser Linie zur Höhe der Mauer des vatikanischen Gartens und zur ehemaligen päpstlichen Münze hinaufzieht.
Was auf demselben steht, ist, abgesehen von wenigen kleineren Häusern, bereits im Besitz der Palastverwaltung oder anderer geistlicher Körperschaften. Es wären doch fast alle mit weltlichem Besitz in der Regel verbundenen Schwierigkeiten öffentliche Sicherheit, Polizeiaufsicht, Strafgewalt, Steuerwesen u.a., möglichst ausgeschaltet, so dass ein nachbarlichfreundliches Verhältnis mit dem angrenzenden italienischen Gebiet leicht anzubahnen wäre." Ehrle forderte, Italien solle nach Kriegsende die Gelegenheit zur Korrektur der 1870 begangenen Fehler nutzen: "Wenn diese inneritalienischen politischen Kräfte und die auswärtigen, am Hofe des Heiligen Vaters durch ihre katholischen Untertanen interessierten Mächte nicht mehr imstande sind, neben dem Grabe Petri ein Stücklein souveränen Landes als von jeglicher andern weltlichen Hoheit unabhängigen Wohnsitz für dessen Nachfolger den Umsturzparteien abzuringen, so käme eine solche Ohnmacht einer politischen Bankrotterklärung gleich, die auf diese Parteien in allen Ländern eine höchst verderbliche Wirkung ausüben müsste."
Der Papst hielt an der Souveränität fest
Ehrles 1916 in den "Stimmen der Zeit" veröffentlichter Artikel wurde von seinen Zeitgenossen als mit der Haltung Papst Benedikts XV. abgestimmt wahrgenommen und entsprechend kommentiert. Vor allem in der römischen Tagespresse wurde der Lösungsvorschlag interessiert zur Kenntnis genommen, jedoch im Unterschied zu früheren Jahren nicht mehr als unvereinbar mit den Interessen Italiens bekämpft. Auf die Einwände von "national-italienischer Seite" wegen der eintretenden Minderung der territorialen Einheit Italiens antwortete Ehrle unbeirrt: "Es schien daher geboten, auf ein Mindestmaß einer solchen territorialen Lösung hinzuweisen, wie sie das geeinigte Königreich dem Fürstentum Monaco und der Republik San Marino, doch wohl ohne Einbuße jener territorialen Einheit und Unveräußerlichkeit, zugestanden hatte und dem Heiligen Vater mit aller Leichtigkeit zugestehen konnte."
Ehrle widersprach gleichzeitig der verbreiteten Fehlinterpretation der Verlautbarungen Benedikts als formeller oder absoluter Verzicht auf den Kirchenstaat. Vielmehr interpretierte er die öffentlichen Äußerungen des Papstes und die Erklärungen des Kardinalstaatssekretärs als eindeutig. Diese "zeigen, dass er an der Arbeit ist und deuten uns die Richtung, in die seine Bestrebungen gehen: auf eine wahre, wohlverbürgte weltliche Souveränität beim Grabe des hl. Petrus."
Ein Zeichen der Versöhnungsbereitschaft gab Papst Benedikt schon im Mai 1920 mit der Aufhebung des Verbots für ausländische katholische Staatsoberhäupter, einer Einladung in den Quirinalspalast, den Dienstsitz des italienischen Staatspräsidenten, Folge zu leisten und damit die 1870 eingetretene Rechtslage faktisch anzuerkennen. Im gleichen Zusammenhang gab Benedikt allerdings unmissverständlich zu verstehen, dass sein Entgegenkommen nicht als stillschweigender Verzicht auf die Rechte des Apostolischen Stuhls aufzufassen sei. Benedikt und sein Nachfolger Pius XI. hielten weiterhin grundsätzlich am Recht des Papstes auf ein eigenes Staatsgebiet fest.
Unbeirrter Papstberater
Nach der Wahl des früheren Präfekten der Apostolischen Bibliothek in Rom, Achille Ratti, zum Papst Pius XI. 1922 wurde Franz Ehrle in den engsten Beraterkreis des Papstes berufen. Mit Ratti, seinem Nachfolger als Präfekt der Apostolischen Bibliothek, war Ehrle nicht nur dienstlich, sondern auch menschlich eng verbunden. Im Jahr vor dessen Wahl zum Papst war er in München Gastgeber von Ratti auf dessen Durchreise nach Polen (Achille Ratti war seit 1918 als Apostolischer Visitator in Polen tätig und war 1919 in Warschau zum Bischof geweiht worden). Gleich im ersten öffentlichen Konsistorium seines Pontifikats gab Papst Pius XI. am 14. Dezember 1922 die Erhebung von acht Kardinälen bekannt, darunter den Jesuiten Dr. Franz Ehrle.
Fortan ließ sich der Papst immer wieder von Ehrle beraten. Im August 1926 begannen die Verhandlungen für ein Konkordat Italiens mit dem Heiligen Stuhl. Pius XI. knüpfte den Abschluss jeder vertraglichen Vereinbarung mit Italien an die Bedingung der endgültigen Beilegung des offenen Konflikts der Römischen Frage. Noch war die genaue territoriale Ausgestaltung eines "neuen Kirchenstaats" aber völlig offen. Erneut wurde jetzt auf Ehrles Vorschlag von 1916 zurückgegriffen. In einer Artikelserie berichtete das "Liechtensteiner Volksblatt" im Juni 1926 von unverbindlichen "Sondierungen in maßgebenden kirchlichen Kreisen" und brachte das Projekt von Ehrle ins Gespräch: "Nach dem Wenigen, was über diese in die Oeffentlichkeit drang, scheint der Antrag Mussolinis wesentlich auf den von Kardinal Ehrle in seiner bekannten Studie über die Römische Frage gegebenen Projekt zu basieren."
Mit Pius XI. abgestimmt
Zum Eintritt der "Römischen Frage" in ein entscheidendes Stadium wiederholte das "Liechtensteiner Volksblatt" im Oktober 1927 die Forderungen nach Anerkennung des Eigentumsrechts auf den Papstpalast sowie der zeitlich unbeschränkten Souveränität des Papstes auf dem päpstlichen Territorium und kommentiert hierzu: "Die Forderungen des Vatikans gegenüber dem italienischen Staat seien von Kardinal Ehrle im Auftrag des Papstes ausgearbeitet worden."
Tatsächlich war Kardinal Ehrle nach Aufnahme von Verhandlungen zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl nachweislich noch vor Oktober 1926 um eine gutachterliche Stellungnahme gebeten worden. Ehrle gehörte zur Gruppe von vier anderen namentlich erwähnten Kardinälen, die sich als Ergebnis der Konsultation aus pragmatischen Gründen für ein kleinstmögliches Territorium unter der Regierung des Heiligen Stuhls ausgesprochen haben. Parallel mit den vor der Öffentlichkeit verborgenen laufenden Verhandlungen galt Ehrle schon seit seiner Erhebung zum Kardinal als Ansprechperson für Lösungsvorschläge und Überlegungen zur "Römischen Frage" aus dem gesamten deutschsprachigen Raum.
Unter den Kardinälen umstritten
Die Aktenlage zur Erforschung der diplomatischen Lösung der "Römischen Frage" deutet auf ein unmittelbar mit Pius XI. abgestimmtes Vorgehen bei den Verhandlungen zum Vertragswerk der Lateranverträge bereits ab Ende 1926 hin. Die historische Forschung tendiert dazu, Mussolini und Pius XI. bereits vor den Verhandlungen zu den Lateranverträgen "auf einer Linie" zu sehen. Die Art und Weise der Wiedererlangung der territorialen Souveränität gehörte allerdings trotzdem zu den am meisten umstrittenen Themen unter den Kardinälen, wobei Pius XI. im Verhältnis zu Italien als entschlossen und durchsetzungsfähig galt.
Nach Abschluss der Lateranverträge am 11. Februar 1929 erhielt gerade Kardinal Ehrle zahlreiche Glückwunschschreiben aus aller Welt. Der Schriftleiter der "Stimmen der Zeit" in München, P. Josef Kreitmair, bat den Kardinal wenige Tage vor Abschluss der Lateranverträge um eine Auslegung für die Öffentlichkeit. Insbesondere bat die Schriftleitung um eine Erlaubnis zum Wiederabdruck des Artikels von 1916 (mit der oben genannten Vatikan-Karte) in derselben Zeitschrift. Ehrle lehnte das Ansinnen Kreitmairs bescheiden, aber strikt ab. Den erwünschten Beitrag in den Stimmen der Zeit verfasste schließlich P. Robert Leiber, der dem Kardinal seine Druckfahnen zur Prüfung vorlegen musste.
Geradezu seherische Genauigkeit
Franz Ehrle galt in seinen Stellungnahmen zur Römischen Frage bereits in der älteren Forschung als Sprachrohr von Papst Pius XI. In den Augen der Zeitgenossen war Ehrle ein früher und anerkannter Verfechter einer realpolitischen Lösung. Mit seinen Publikationen leistete er wesentliche Vorarbeit dafür, dass die katholische Kirche aufgrund der Zugeständnisse Mussolinis "auf die Dauer der Gewinner der Lateranverträge" von 1929 war. Die Verdienste Ehrles um die praktische Lösung der Römischen Frage und sein begründetes Projekt für das heutige Territorium des Vatikanstaats sind seit Bestehen des Vatikanstaats anerkannt. Ehrle habe "den modernen Kirchenstaat mit einer geradezu seherischen Genauigkeit damals bereits beschrieben."
Franz Ehrles 1916 in den "Stimmen der Zeit" veröffentlichte Vatikan- Karte (Maßstab 1:22.500) kommt den im Staatsvertrag der Lateranverträge 1929 getroffenen Übereinkünften und dem heutigen Grenzverlauf tatsächlich sehr nahe. Die von ihm vorgeschlagene Grenzführung baute auf dem Gedanken auf, teilweise die sogenannte Leo- Stadt – benannt nach der Befestigung aus der Zeit Leos IV. (847-855) zum Schutz vor den Sarazenen – die sowohl architektonisch als auch durch die sie umgebenden Mauern städtebaulich eine gewisse abgeschlossene Einheit bildete, zum zentralen Territorium für das neu zu schaffende Staatsgebiet des Staates der Vatikanstadt zu machen. Die historische Begrenzung der "Leo-Stadt" bildet im Norden die Verbindungslinie zwischen den äußeren Kolonnaden über den "Passetto" (Fluchtgang) bis zur Engelsburg.
Angesehen bei allen Nationen
Eine Woche nach Franz Ehrles Tod am 31. März 1934 fasste der römische Korrespondent der "Kölnischen Zeitung" das Wirken des verstorbenen deutschen Kurienkardinals wie folgt zusammen: "Ohne es zu wollen, hat Ehrle zweimal in die Geschichte des Papsttums eingegriffen. Er war es, der als seinen Nachfolger den Bibliothekar der Mailänder Ambrosiana, Achilles Ratti, empfahl, und diesem damit die Tür zu seinem Aufstieg, der mit der Erhebung zum Papst enden sollte, eröffnete. Das zweite Mal durch eine Denkschrift, die er während des Krieges in Deutschland über die Herstellung des Kirchenstaates ausarbeitete. Sie hat all den unsinnigen Plänen (…) ein Ende bereitet und für ihn lediglich ein Minimum von Territorium gefordert. Der Lateranvertrag von 1929, der den Stato della Città del Vaticano begründete, hält sich ungefähr an den Plan, den Ehrle damals umrissen hatte. (…) und wohl selten haben Angehörige aller Nationen der Persönlichkeit eines Deutschen in Rom so viel Achtung und Verehrung entgegengebracht wie der des Paters und des Kardinals Ehrle."
Mein römischer Doktorvater, der langjährige Professor für Vatikanisches Recht an der Päpstlichen Lateranuniversität, Winfried Schulz, formulierte deshalb zu Recht: "De facto und verwaltungstechnisch hat sich das vatikanische Staatsgebiet so abgerundet, wie es Franz Ehrle schon 1916 vor seinem geistigen Auge gesehen hatte und wie es in der städtebaulichen Logik dieses Areals und seiner Bestimmung als Staatsterritorium für den Vatikanstaat begründet liegt."