Armut hat viele Gesichter

Veröffentlicht am 20.02.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Tag der sozialen Gerechtigkeit

Bonn ‐ Soziale Gerechtigkeit, was ist das eigentlich? Eine Frage, die man an ihrem Welttag einmal stellen kann, gar sollte. Gleiches Recht und gleiche Chancen für alle? Wenn die Antwort doch nur so einfach wäre. Zunächst einmal gilt festzuhalten: Es gäbe den Begriff nicht, wenn es keine soziale Ungerechtigkeit gäbe. In Deutschland mögen es Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau sein, in anderen Teilen der Erde geht es um Grundsätzliches wie Hungerbekämpfung und Bildung. Entsprechend kommen, je nachdem, wen man fragt, auch unterschiedliche Antworten bei der Frage nach sozialer Gerechtigkeit heraus.

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Deutschland ist ein reiches Land, aber längst nicht jeder hier ist reich. Millionen von Kindern leben in Deutschland in "relativer" Armut, darauf weist die Kinderhilfsorganisation Unicef hin. Arm nicht nur an Geld, sondern auch an Kindheit. Wenn dem Nachwuchs Freizeitaktivitäten oder auch das Mittagessen in der Schule aus finanziellen Gründen verwehrt bleiben, dann ist das nicht gerecht. Schlimmer noch, kann es dramatische Lücken in der kindlichen Entwicklung hinterlassen. Und dann sind da die Menschen mit Behinderung, die ihren Teil zum gesellschaftlichen Miteinander beitragen könnten, wenn man sie nur ließe.

In diesen und anderen Bereichen betätigen sich deshalb auch die katholische Caritas und die evangelische Diakonie. "Soziale Gerechtigkeit heißt, dass alle Menschen gleichberechtigt am Leben teilhaben können und kein Mensch ausgegrenzt oder stigmatisiert wird", sagt Johannes Stockmeier, Präsident der Diakonie Deutschland. "Die Diakonie bietet zum Beispiel Hilfe für pflegebedürftige und alte Menschen, für Menschen mit Behinderung, für Kinder, Jugendliche und Familien, für Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen, die von Armut oder Krankheit betroffen sind." Das tut sie mit Aktivitäten und Projekten vor Ort, aber auch darüber hinaus: "Auf politischer Ebene setzt sich die Diakonie Deutschland dafür ein, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Teilhabe für alle Menschen ermöglichen", so Stockmeier.

Die eigenen Fähigkeiten entfalten

"Soziale Gerechtigkeit bietet die Chance, die eigenen Fähigkeiten zu entfalten, um an der Gesellschaft teilzuhaben", sagt Claudia Beck, Sprecherin Deutschen Caritasverbandes. Jeder solle diese Chance erhalten, wobei Bildung eine wichtige Rolle spiele. Laut Beck geht das im Kindergartenalter schon los: "Wir verstehen Kitas auch als Bildungseinrichtungen." Wobei unter Bildung mehr verstanden werde als der Erwerb von Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen. "Es geht auch um die Bewältigung des eigenen Alltags.“"

Um Menschen dabei zu helfen, hat die Caritas das "Haushaltsorganisationstraining" (Hot) entwickelt, durch das Menschen und Familien lernen, mit den eigenen – finanziellen und materiellen – Ressourcen und Fähigkeiten verantwortungsvoll umzugehen. Soziale Gerechtigkeit setzt außerdem soziales Verhalten voraus. Das Thema greift die Caritas aktuell in der Initiative "Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt" auf.

Teilhabe ist in Deutschland eine wichtige Vokabel im Zusammenhang mit sozialer Gerechtigkeit. Für Kinder bedeutet das, an Aktivitäten teilnehmen zu können, die ihre Entwicklung fördern und soziale Kontakte und Kompetenzen entstehen lassen. Für Erwachsene geht es um Arbeit, die laut Beck nicht nur Lebensunterhalt, sondern ebenfalls ein Ort für die Kontaktaufnahme darstellt. Dafür ist es wichtig, überhaupt eine Arbeit zu haben.

Um dieses Thema geht es auch der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (KAB). "Soziale Gerechtigkeit ist für uns ein politisches Anliegen", sagt Michael Schäfers, Leiter des KAB-Grundsatzreferats. Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten, die Gleichbehandlung von Frauen und Männern, ein gesetzlicher Mindestlohn: Dafür setze sich die KAB ein.

Umverteilung von Gütern

Teilhabe, Entwicklungschancen für Kinder, Gleichberechtigung in der Arbeitswelt, das sind Dinge, über die man in Südamerika, Afrika und weiten Teilen Asiens noch gar nicht vorrangig nachdenkt. Für die katholische Hilfsorganisation Misereor sowie für den evangelischen Entwicklungsdienst "Brot für die Welt" geht es in Sachen sozialer Gerechtigkeit erst einmal darum, dass alle Menschen grundlegende Bedürfnisse stillen können. "Brot für die Welt" bedeute nicht nur Brot, sagt Barbara Bosch von der Pressestelle, sondern alles, was die Menschen zum Leben brauchen.

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Video: © Misereor

Armut, Hunger und die Folgen des Klimawandels machen den Fischern, Kleinbauern und Textilarbeiterinnen in Bangladesch das Leben schwer.

Bei Misereor sind das laut Pressesprecher Ralf Allgaier vier Hauptbereiche: Nahrung, Wohnung, Gesundheit und Bildung. Das Hauptaugenmerk in Sachen sozialer Gerechtigkeit liege auf der Umverteilung von Gütern. Die Reichen müssten den Armen helfen. Durch die Entwicklungshilfe sei, so Allgaier, schon einiges erreicht worden, beispielsweise in Sachen Alphabetisierung, Rückgang der Säuglingssterblichkeit und Hungerbekämpfung. "2008 hatten wir mehr als 1 Milliarde Hungernde auf der Welt, jetzt sind wir bei 870 Millionen. Die Zahl ist immer noch absolut skandalös, aber es tut sich was."

Laut Allgaier haben Hilfswerke eine doppelte Aufgabenstellung: "Zum einen müssen wir uns um konkrete Notlagen kümmern und dauerhaft und nachhaltig helfen, zum anderen aber auch an den Ursachen arbeiten." So unterstütze man zum einen etwas landwirtschaftliche Projekte in den armen Ländern. Zum anderen mische man sich politisch ein und weise beispielsweise auf die Folgen des Klimawandels hin.

Durch die Klimaerwärmung steige der Meeresspiegel, Felder könnten überschwemmt und durch Versalzung des Bodens unbrauchbar werden, sagt Allgaier. Ebenso wehre man sich dagegen, dass mit Nahrungsmitteln an der Börse spekuliert, wehre man sich. "Der Hunger auf der Welt müsste nicht sein, weil es mehr als genug Nahrung gibt, als benötigt wird", sagt der Misereor-Mann. Es zeigt sich, dass man den Begriff soziale Gerechtigkeit nicht einheitlich interpretieren kann, sondern von den sozialen Gegebenheiten abhängig machen muss.

Wer in Deutschland denkt, soziale Ungerechtigkeit geschehe nur dort, wo Menschen hungern oder politisch verfolgt und ausgegrenzt werden, sollte vor der eigenen Haustür mal die Augen aufmachen. Der Welttag, den die Vereinten Nationen ausgerufen haben und der 2009 das erste Mal begangen wurde, weist genau darauf hin.

Von Stefan Knopp

Katholische Soziallehre

Schon in den Lehren von Aristoteles und Thomas von Aquin mag man Grundzüge zur sozialen Gerechtigkeit erkennen. Als Begriff findet sie sich im 19. Jahrhundert bei dem Jesuitenpater Luigi Taparelli d’Azeglio, der in seinem Werk zur Begründung des Naturrechts in der Tradition der rationalistischen Barockscholastik von der "Gerechtigkeit eines Menschen gegen den anderen" im Sinne der Gleichstellung aller Menschen spricht. Sein Schüler Vincenzo Gioacchino Pecci beschreibt später als Papst Leo XIII. in der ersten Sozial-Enzyklika "Rerum novarum" von 1891 die dem Gemeinwohl der Menschen verpflichtete moderne Soziallehre der Kirche für Staat und Gesellschaft, die danach ständig weiterentwickelt wird. Darin werden als Grundprinzipien Solidarität als gemeinschaftliches Handeln aller, Subsidiarität im Sinne der Erfüllung von Aufgaben durch kleinere Gruppen wie die Kindererziehung durch Eltern und Personalität als freiheitliche Entfaltung des Einzelnen festgelegt. (knp)