Der Marsch der Missbrauchsopfer Richtung Vatikan
Trommeln erklingen am Samstagvormittag auf der Piazza del Popolo in der römischen Innenstadt. Aber es sind keine Straßenkünstler, die die Blicke an dem sonnigen, aber eiskalten Februartag auf sich ziehen. Auf dem "Platz des Volkes" haben sich knapp 50 Opfer sexuellen Missbrauchs durch Kleriker versammelt. Ihre Geschichten, ihre Forderungen, sowie der Trommelklang und die Karikaturen, die sie hochhalten, wollen sie zwei Kilometer weiter westlich gesehen und gehört wissen: Im Vatikan tagen parallel der Papst, die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen aus aller Welt und einige Experten zum Thema Kinderschutz.
Beim "March to Zero" fordern die Opfer Nulltoleranz gegenüber Tätern und Vertuschern sowie finanzielle Entschädigungen. Eine Polen-Flagge hat sich Marek Lisinski um die Schultern gelegt. Dem Gründer des polnischen Opfervereins "Habt keine Angst" hatte Papst Franziskus nach der Generalaudienz am Mittwoch nach einem kurzen Gespräch die Hand geküsst. Lisinski war als 13-Jähriger monatelang von einem Priester missbraucht worden. Bei dem Italiener Arturo Borrelli fing das Leid noch früher an. Der 40-jährige Neapolitaner berichtet, bereits vor 30 Jahren von einem Priester missbraucht worden zu sein. Nachdem er seine Geschichte anonym einem Fernsehsender erzählt hatte, veröffentlichte Neapels Kardinal Crescenzio Sepe einen offiziellen Bericht, in dem Borrellis Name achtmal auftauchte. Dieser verlor seinen Job. Sein Peiniger soll inzwischen unter einem anderen Namen als Priester und Religionslehrer in Mittelitalien arbeiten.
Beim Thema Missbrauch geht es den Opfern und Aktivisten aber nicht nur um Kinder. So nimmt etwa auch die indische Theologin und Frauenrechtlerin Virginia Saldanha an der Demo teil. Die 71 Jahre alte Katechetin aus Mumbai engagiert sich ihr Leben lang für die Kirche, zu dem Thema Missbrauch kam sie vor mehr als 20 Jahren, als sie in der Frauenkommission der Indischen Bischofskonferenz arbeitete. Sie erzählt von Berichten zweier junger Ordensfrauen, die von einem Priester im Rahmen von Besinnungstagen sexuell missbraucht wurden. Und von dem Jungen einer armen Familie, der im Jahr 2015 von einem Priester mutmaßlich vergewaltigt wurde.
Indischer Kardinal des Fehlverhaltens bezichtigt
Der Geistliche, über den es schon lange Gerüchte gegeben haben soll, sei stets nur in eine weitere Pfarrei versetzt worden, ärgert sich Saldanha. Sie klagt vor allem Kardinal Oswald Gracias an, den Erzbischof von Bombay. Dieser habe in diesem und in mindestens einem weiteren Missbrauchsfall nicht reagiert.
Gracias gehörte dem Vorbereitungsgremium für den Anti-Missbrauchsgipfel an und spielt bei dem Treffen eine herausgehobene Rolle. Über seine Rede bei dem Bischofstreffen kann Saldanha nur den Kopf schütteln: "Das Thema war Rechenschaftspflicht der Bischöfe, aber er sprach nur über die Kollegialität unter den Oberhirten – das Schlagwort 'accountability' kam in seiner Rede nur zweimal vor." Am Freitag gab Gracias gegenüber dem BBC eigenes Fehlverhalten zu.
Unter dem Namen "Ending Clergy Abuse" (ECA, "Missbrauch durch Kleriker beenden") haben sich vor zwei Jahren Opferorganisationen aus knapp 20 Ländern zusammengeschlossen und reisen seitdem an Orte, die der Papst besucht, um an das Thema Missbrauch zu erinnern. In Rom veranstalten sie in diesen Tagen eine Art Gegengipfel, denn eingeladen waren sie nicht. Sie bezahlen die Reisen – auch ihren Aufenthalt in Rom – aus eigener Tasche, sagt der Deutsche Matthias Katsch vom "Eckigen Tisch".
Die Bischöfe in der vatikanischen Synodenaula bekommen Videobotschaften mit Berichten von Missbrauchsopfern gezeigt. Den direkten Kontakt mit Opfern suchen nur wenige. Es gab zu Beginn des Treffens eine kurzfristig angekündigte Begegnung der Organisatoren mit einigen Missbrauchsopfern – und zwei Besuche in der ECA-Zentrale: Der englische Primas Vincent Nichols und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, nahmen sich Zeit für das Gespräch mit den Opfern.
Direkt vor den Vatikan in Form des Petersplatzes kommen die Opfervertreter aber auch an diesem windigen Samstagmittag nicht: Nach einer Stunde mit Kundgebungen und zahlreichen Interviews ziehen sie von der "Piazza del Popolo" bis zur Engelsburg. Die Polizei habe keinen Demonstrationszug erlaubt, berichtet Katsch. So löst sich die Demo in Sichtweite des Petersplatzes auf. In kleinen Grüppchen trauen sich einige wenige bis an die Absperrung des Vatikans – aber ihre großen Plakate haben sie da schon zusammengefaltet und sind von Touristen und Pilgern kaum zu unterscheiden.
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