Dogmatiker: Benedikt XVI. schreibt Antijudaismus fort
Der Wuppertaler Dogmatiker Michael Böhnke hat den neuen Aufsatz von Joseph Ratzinger zur Theologie des Judentums mit scharfen Worten kritisiert. In der im Münsteraner Forum für Theologie und Kirche veröffentlichten Stellungnahme wirft er dem emeritierten Papst vor, er würde "den durch Nostra aetate 4 überwunden geglaubten Antijudaismus – trotz aller Beteuerungen des Gegenteils – christologisch nur fortschreiben und zementieren".
Die Veröffentlichung des Textes durch den Präsidenten der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, Kardinal Kurt Koch, räume mit "drei Legenden" auf, so Böhnke. Die Veröffentlichung zeige erstens, dass der "um sein Erbe besorgte Benedikt offenbar hinter den Mauern des Vatikan immer noch die Fäden" ziehe, anstatt sich ins Schweigen zurückgezogen zu haben. Zum zweiten sei im Licht der Veröffentlichung deutlich geworden, dass sowohl die umstrittene Neuformulierung der lateinischen Karfreitagsfürbitte wie die Rehabilitierung des Bischofs der Piusbruderschaft Richard Williamson, der den Holocaust geleugnet hatte, nur Irrtümer gewesen seien: "Die Anmerkungen liefern für beides unfreiwillig die Begründung." Drittens sei der Aufsatz "dazu geeignet, mit der Legende aufzuräumen, dass Joseph Ratzinger ein großer Theologe genannt werden müsste".
Der Text offenbare "in kaum zu überbietender Klarheit die unter dem Mantel frommer Unschuld daherkommende Methode einer Hermeneutik der Kontinuität, die in der Lage ist, die Tradition in eine neue, längst überwunden geglaubte Richtung zu lenken", schreibt Böhnke. Der Wuppertaler Professor für Systematische Theologie, der zu den Unterzeichnern des Memorandums "Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch" gehört, sieht in den Anmerkungen Ratzingers ein "Programm einer revisionistischen Theologie letzter Hand". Er stellt fest, man "hätte nicht erwartet, von einem deutschen Theologen nach Auschwitz noch einmal so etwas lesen zu müssen".
Kritik aus dem Judentum
Die in der Zeitschrift "Communio" erschienenen Anmerkungen Ratzingers zur christlichen Theologie des Judentums haben eine intensive Diskussion ausgelöst. Der Rabbiner Walter Homolka sieht in dem Aufsatz eine Formulierung "christlicher Identität auf Kosten der jüdischen" und befürchtet, dass er Grundlagen für einen "neuen Antisemitismus auf christlicher Grundlage" liefern könnte. Der Wiener Oberrabbiner Arie Folger will den als internen Text gedachten Aufsatz nicht an "Maßstäben des öffentlichen und interreligiösen Diskurses" messen. Er bewertet allerdings Ratzingers These, dass die Theorie von der Ersetzung des Alten durch den Neuen Bund nie Teil der Lehre der Kirche gewesen sei, als "ahistorischen Revisionismus, der das reale Leid ignoriert, das wegen der Doktrin von 'Verus Israel' Juden jahrhundertelang angetan wurde". Durch den Vorschlag Ratzingers, Christen sollten Juden die christologische Deutung des Alten Testaments nahebringen, befürchtet eine Rehabilitierung der Judenmission.
Der Schweizer Rabbiner und Judaist David Bollag bewertet Ratzingers Verhältnis zum Judentum grundsätzlich kritisch. Seit er nicht mehr Papst sei, habe sich "der jüdisch-christliche Dialog wieder spürbar verbessert". In den nun veröffentlichten Anmerkungen sieht er "eine klare Regression": "Ein überraschender Rückschritt, mit dem wir auf jüdischer Seite nicht gerechnet haben und der dem jüdisch-christlichen Dialog wieder grosse Steine in den Weg legen wird. [...] Sind wir nun wieder die 'Iudaei perfidi', die treulosen, perfiden Juden?" (fxn)