Matthäus – "Ein ökumenisches Evangelium"
Es ist das erste Evangelium, auch wenn es ziemlich sicher nicht das älteste ist: das Matthäusevangelium. In der Heiligen Schrift nimmt es eine Spitzenstellung ein, denn es wird stets als erstes der neutestamentlichen Bücher genannt – nicht nur in heutigen Bibelausgaben, sondern schon in allen frühchristlichen Auflistungen der biblischen Schriften. Dabei ist der Verfasser des Evangeliums unbekannt und wird auch in den ältesten Texten nicht genannt. Doch die kirchliche Tradition geht vom Apostel Matthäus als Autor aus. Um 125 war Bischof Papias von Hierapolis in der heutigen Türkei der erste, der für diese Zuschreibung eintrat. Wahrscheinlich sollte die Autorschaft des Apostels Matthäus den Vorrang des Evangeliums begründen.
Matthäus hat die konkrete Lebenssituation seiner Leser im Blick
Historisch ist Matthäus als Verfasser des Evangeliums wohl eher ausgeschlossen. Als einer der zwölf Apostel und damit Augenzeuge des Wirkens Jesu hätte Matthäus die eigenen Erfahrungen aufschreiben können. Dies ist beim Matthäusevangelium aber nicht der Fall. Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass sich der Autor sehr stark am Markusevangelium orientiert hat, das Bibelwissenschaftler seit etwa 180 Jahren für das älteste Evangelium halten. Dessen Grundstruktur übernimmt er und ergänzt es durch verschiedene Worte Jesu, die wohl aus einem anderen Werk stammen, das heute nicht mehr bekannt ist. Theologen haben es 'Spruchquelle Q' getauft. Auch im Lukasevangelium sind Spuren von Q zu finden. Zusätzlich setzt der Verfasser des Matthäusevangeliums eigene Schwerpunkte mit Erzählungen, die in anderen Evangelien nicht vorkommen. Dadurch will er etwas über den christlichen Glauben aussagen, das für die konkrete Lebenssituation seiner Leser gedacht sind.
Matthäus schreibt seine Frohbotschaft für eine bestimmte Gemeinde, die er in seinem Werk jedoch nicht nennt. Es wird angenommen, dass die Leser aus Syrien stammen. Das Evangelium spielt darauf an: "Und sein Ruf (Jesu) verbreitete sich in ganz Syrien." (Mt 4,24) Diese Vermutung stützt auch die Bezeugung des Evangeliums in einer alten syrischen Gemeindeordnung und beim Kirchenvater Ignatius von Antiochien.
Die Gemeinde des Matthäus ist in einer schwierigen Situation: Sie besteht aus Juden, die an Jesus als Sohn Gottes glauben und sich wohl schon vor einiger Zeit von der Synagoge abgespalten haben. Diese frühen Christen verstehen sich jedoch weiterhin als Juden und müssen sich gegenüber den jüdischen Autoritäten für ihre Überzeugungen rechtfertigen. Daher findet sich im Matthäusevangelium viel Kritik an der jüdischen Gruppe der Pharisäer und eine starke Abgrenzung zur Synagoge.
Gleichzeitig nimmt die Gemeinde des Matthäus Heiden auf, die zum christlichen Glauben gefunden haben. Auch sie sollen ihr Leben nach dem jüdischen Gesetz, der Tora, ausrichten. Matthäus möchte in seinem Evangelium daher klären, in welchem Umfang die Tora gilt. Konflikte um die richtige Lebensführung führten wohl zu einer großen Unsicherheit in der Gemeinde, die sich im Evangelium niederschlägt: Jesus wird als Meister seiner Jünger beschrieben, der besonders in den großen Reden des Matthäusevangeliums seine Lehre darlegt, so auch in der bekannten Bergpredigt (Mt 5,1-7,29). Der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding hält die sie für die "Magna Charta christlicher Jüngerschaft". In der Bergpredigt legt Jesus die Tora neu aus und schafft damit die Grundlage für eine christliche Ethik.
Auch die Heiden sind zum Glauben an Jesus berufen
Aber Matthäus lässt Jesus auch in den anderen Reden seines Evangeliums eine klare, eindringliche Sprache sprechen: In der Aussendungsrede (Mt 9,35-11,1) warnt er die Jünger vor den Gefahren der Welt und in der Endzeitrede (Mt 24,1-25,46) spricht Jesus über die letzten Dinge und die Vollendung. Auf diese Weise interpretiert der Autor des Evangeliums die jüdische Lehre für die Gemeinde neu und möchte sie auch für die Heidenchristen lebbar machen. Wegen dieses Miteinanders von Juden- und Heidenchristen bezeichnet der Schweizer Theologe Ulrich Luz das Matthäusevangelium als "ein ökumenisches Evangelium". Weitere theologische Höhepunkte des Matthäus finden sich zudem am Anfang und am Schluss seines Werks.
Der Beginn jedes der vier Evangelien des Neuen Testaments hat zu einem Symbol für den jeweiligen Text geführt. Das Matthäusevangelium hat einen, oft geflügelt dargestellten Menschen als Zeichen, denn es beginnt mit einem langen Stammbaum Jesu (Mt 1,1-17). Vom jüdischen Stammvater Abraham über König David bis hin zu Josef, dem Ziehvater Jesu, wird der Gottessohn als echter Mensch beschrieben, der in einer langen Reihe von jüdischen und heidnischen Vorfahren steht. Mit der Huldigung der Sterndeuter will Matthäus zeigen, dass auch die Heiden zum Glauben an Jesus berufen sind. So versöhnt Matthäus die juden- und die heidenchristlichen Tendenzen in seiner Gemeinde.
Der Schluss des Matthäusevangeliums ist der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Texts: Jesus ruft als Auferstandener die Apostel in einer Erscheinung dazu auf, alle Völker zu seinen Jüngern zu machen und sie zu taufen (Mt 28,16-20). Diese Bibelstelle hat wohl wie kaum eine andere die Weltgeschichte geprägt hat, denn sie begründete den Missionseifer des Christentums und führte damit zu seiner Ausbreitung auf der ganzen Erde. Dieses Ende des Evangeliums fasst "wie in einem Kopfbahnhof" die Themen des Werks zusammen, sagt der Theologe Luz. Es will zeigen, dass Jesus wirklich Gottes Sohn ist und seine Apostel dazu aufruft, Juden und Heiden die Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden.
Die Gestalt des Apostels Petrus erhält im Matthäusevangelium eine wichtige Stellung: Petrus wird ausdrücklich "an erster Stelle" (Mt 10,2) bei der Aufzählung der Zwölf genannt und als "Fels" (Mt 16,18) bezeichnet, auf den Jesus seine Kirchen bauen will. In seiner Glaubensstärke, aber auch in seinem Versagen kann sich die Gemeinde des Matthäus wiederfinden. Petrus steht damit stellvertretend für die Tradition der Apostel. Deshalb wird das Matthäusevangelium von der Kirche besonders geschätzt und war vor der Liturgiereform in der alten Leseordnung dominierend.
Wer war der Autor des Matthäusevangeliums?
Außer seinen theologischen Schwerpunkten ist über den Verfasser des Matthäusevangeliums nicht viel bekannt. Er stammte wie seine Gemeinde wohl aus Syrien und war Judenchrist, da er kenntnisreich über die jüdischen Gesetze und Bräuche schreibt. Sein Griechisch, in dem das Evangelium verfasst wurde, halten Bibelwissenschaftler für gebildeter als die Sprache des Markusevangeliums. Somit könnte er ein Leiter oder Schriftgelehrter einer christlichen Gemeinde gewesen sein. Sein Evangelium wird der Autor um etwa 80 geschrieben haben, da er das ältere Markusevangelium als Grundlage verwendet und schon auf die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 zurückblickt.
Auch über den Apostel Matthäus gibt es nicht viele Informationen. Während im Markus- und Lukasevangelium in den Textstellen von der Berufung des Zöllners der Name Levi fällt, heißt dieser im ersten Buch des Neuen Testaments Matthäus. Eine Übereinstimmung der beiden Personen könnte daher möglich sein. Matthäus soll nach der Auferstehung Jesu zwölf Jahre in Jerusalem gewirkt und danach in Äthiopien, Mesopotamien oder Persien missioniert haben. Die Kirche verehrt Matthäus als Märtyrer, obwohl keine Hintergründe zu seinen Tod bekannt sind. Seit dem 11. Jahrhundert befinden sich seine Reliquien im italienischen Salerno.