Es ist nie ein Grund allein
Glaubensverlust, Unzufriedenheit, Kirchensteuer: Welche Motive führen am häufigsten zu einem Kirchenaustritt? Im Jahr 2015 hatte die katholische Kirche in Deutschland noch knapp 24 Millionen Mitglieder. Zugleich verzeichnete sie 182.000 Austritte. Jährlich rund 4.000 Menschen sind zuletzt im Bistum Essen aus der Kirche ausgetreten. Mit dem kontinuierlichen Mitgliederverlust will sich das Ruhrbistum nicht länger zufriedengeben. Deshalb lässt es eine breitangelegte Studie durchführen, aus der die Diözese für die Zukunft lernen möchte. Das wissenschaftliche Projekt ist Teil des "Zukunftsbildes", das das Bistum entwickelt. Derzeit werden die bisherigen Ergebnisse ausgewertet.
Von März bis Mai dieses Jahres war in einem ersten Schritt der Studie ein Online-Fragebogen freigeschaltet, in dem die Menschen Gründe für ihren Austritt aus der Kirche oder ihren Verbleib in ihr angeben konnten. "Daran haben sich über 3.000 Leute beteiligt, was für ein einzelnes Bistum eine erstaunliche Resonanz ist", sagt Tobias Faix, Theologieprofessor aus Kassel und Leiter des Forschungsinstituts "empirica". Faix spricht aus Erfahrung, denn er hat in den vergangenen Jahren verschiedene Studien zu den Themen Glaube und Kirche durchgeführt. Die Kirchenaustritts-Studie, die das Bistum Essen in Auftrag gegeben hat, ist ein Gemeinschaftsprojekt seines Instituts und der Universität Siegen.
"Der Fragebogen sollte zunächst einmal ein erstes Stimmungsbild im Ruhrbistum spiegeln – noch ohne in die Tiefe zu gehen", erläutert Faix. 440 der Teilnehmer waren aus der Kirche ausgetreten. Bei den ausschlaggebenden Motiven entfielen die mit Abstand meisten Nennungen auf den Punkt Entfremdung beziehungsweise fehlende Bindung zur Kirche, gefolgt von der Kirchensteuer und einer "nicht mehr zeitgemäßen Haltung der Kirche". Andere Studienteilnehmer gingen hier noch mehr ins Detail: So haben es auch das Frauenbild der Kirche und der Zölibat in die Top Ten der Austrittsmotive geschafft sowie die "Diskrepanz zu ethischen Positionen" (worunter die Haltung zu Homosexuellen fällt). Außerdem das Erscheinungsbild der Kirche ("Unglaubwürdigkeit"), persönliche Enttäuschungen und kirchliche Skandale. "Dabei ist eines zu beachten: Es ist nie ein Grund allein", betont Faix. Vielmehr würden stets mehrere Aspekte zusammenspielen – "bis der Punkt kommt, an dem es heißt: 'Mir reicht's'".
Kirchenaustritt oft sehr langwierig und emotional
Das habe vor allem auch der zweite Teil der Studie gezeigt, so Faix. Am Ende des Fragebogens konnten die Teilnehmer ankreuzen, ob sie für ein weiterführendes, persönliches Interview bereitstehen. Viele haben dem zugestimmt und 42 Teilnehmer wurden dann laut Faix von dem Forscherteam befragt – entweder bei einem Treffen oder am Telefon. Die Altersgruppe war dabei gemischt: von Ende 20 bis Anfang 70. "Das waren alles Leute, die eine Grundidentifikation mit der Kirche hatten", sagt Faix. Niemand, der "einfach so" ausgetreten sei, sondern Menschen, die teilweise über viele Jahre mit der Kirche verbunden waren. Die Interviews hätten gezeigt, "dass der Kirchenaustritt gerade bei den älteren Leuten ein sehr langwieriger und emotionaler Prozess war".
In den persönlichen Gesprächen, die zwischen 40 und 70 Minuten gedauert haben und anonym behandelt werden, sollten die Motive aus den Fragebögen laut Faix mit Leben gefüllt werden. "Wir wollten an einzelnen Biographien genau nachvollziehen, welche Punkte letztlich zum Kirchenaustritt führten." Ein Teilnehmer (47) hatte mehrere persönliche Enttäuschungen erlebt – darunter fehlende Familienangebote in seiner Pfarrei und einen mangelhaften Firmunterricht seines Sohnes. Zusätzlich sei ihm die Kirche immer "unglaubwürdiger" vorgekommen, wie der Befragte im Interview angab: Sein Heimatpfarrer zum Beispiel sei "mit einem kleinen blitzenden Mercedes durch die Gegend" gefahren, während gleichzeitig zu lesen war, "dass das Bistum Essen ganz arm ist und überall gespart werden muss". Es handele sich bei der Kirche um "ein kommerzielles Unternehmen", das "nach Gewinnmaximierung und Gewinnmaßstäben handelt und in keinster Weise nach Menschenliebe, Nächstenliebe, Barmherzigkeit", so der Befragte.
„Man wird persönlich enttäuscht, entfremdet sich immer weiter, fühlt sich nicht ernst genommen und dann kommt noch irgendein kirchlicher Skandal dazu – 'und dafür bezahle ich auch noch Geld? Nein'“
Eine große persönliche Enttäuschung, die auf der Haltung der Kirche zu Homosexualität basiert, erlebte eine Teilnehmerin (37). Sie war laut eigenen Angaben Religionslehrerin und in ihrer Gemeinde sehr aktiv, unter anderem im Pfarrgemeinderat. Nachdem ihre Ehe in die Brüche gegangen war, verliebte sie sich in eine Frau. "Das war in der Gemeinde ein echter Spießrutenlauf, weil die Leute wirklich mit dem Finger gezeigt haben. Alles, was man vorher gemacht hat, galt nichts mehr", so die Befragte. Ihre Partnerschaft sei von Gemeindemitgliedern bis ins Bistum getragen worden. Daraufhin habe sie ihre Lehrerlaubnis – die Missio canonica – zurückgegeben und sei aus der Kirche ausgetreten.
"Weltfremd und es war auch nie zeitgemäß"
"Der Stellung der Kirche zur Homosexualität, zur Verhütung und dem Zölibat kann ich nicht zustimmen", sagte ein weiterer Befragter (43). "Das ist meines Erachtens weltfremd und es war auch nie zeitgemäß." Als Kind sei er regelmäßig in den Gottesdienst gegangen, dann habe er sich immer weiter von der Kirche entfremdet, weil er vieles als scheinheilig empfunden habe. Ein letzter Anstoß zum Kirchenaustritt sei dann die Kirchensteuer gewesen: Selbst wenn man nicht aktiv glaube, müsse einen die Zugehörigkeit nicht stören, so der Befragte. Wenn jedoch "irgendwann dafür Geld bezahlt wird, stellt man das natürlich schon in Frage".
Dieses letzte Beispiel steht laut Faix stellvertretend für viele: "Die Kirchensteuer spielt für den Austritt häufig eine Rolle, aber sie ist nie die alleinige Motivation." Kein Studienteilnehmer sei allein ausgetreten, um Geld zu sparen. Aber häufig sei das der letzte Grund innerhalb eines Prozesses: "Man wird persönlich enttäuscht, entfremdet sich immer weiter, fühlt sich nicht ernst genommen und dann kommt noch irgendein kirchlicher Skandal dazu – 'und dafür bezahle ich auch noch Geld? Nein'", so Faix.
Linktipp: Ruhrbistum fragt Ausgetretene nach ihren Gründen
Was bringt Menschen zum Kirchenaustritt? Und warum bleiben andere trotz persönlicher Distanz? Das Bistum Essen sucht in einer Studie nach Antworten. Für das Ruhrbistum geht es dabei um viel mehr als nur Geld. (Artikel von März 2017)Nach dem Stimmungsbild und den vertiefenden Interviews ist noch bis voraussichtlich September ein weiterer, detaillierterer Fragebogen online. Dieser ist nicht auf das Bistum Essen beschränkt, sondern richtet sich an aktuelle und ehemalige Mitglieder sowohl der katholischen als auch evangelischen Kirche in ganz Deutschland. "Das machen wir, um Kontrastgruppen zu bekommen", erklärt Faix. Die Frage sei, wie sich das Bistum Essen in die gesamtkatholische Landschaft einordne und wie repräsentativ die genannten Motive seien. "Und schließlich: Wie verhält es sich im Vergleich auf evangelischer Seite?"
"Wir wollen aus den Ergebnissen möglichst schnell Ideen entwickeln, wie sich unsere Kirche auf allen Ebenen weiter entwickeln kann", hatte das Bistum Essen bereits zu Beginn der Studie verlautbaren lassen. Das bestätigt nun auch Faix: Es gehe nicht nur um wissenschaftliche Ergebnisse, sondern auch darum, wie man hinterher pastoral damit arbeiten könne. Deshalb hätten die an der Studie beteiligten Institute gemeinsam mit Vertretern des Bistums Essen damit begonnen, Schlüsse für die Praxis zu ziehen. "Meines Erachtens wäre es zum Beispiel sinnvoll, künftig Anlaufstellen zu schaffen für Menschen, die mit dem Gedanken spielen, aus der Kirche auszutreten", sagt Faix. Dort könnten sie von Angesicht zu Angesicht mit Vertretern der Kirche über ihre Sorgen und ihre Unzufriedenheit sprechen. Denn oft hätten die Studienteilnehmer angegeben, dass sie keine Ansprechpartner in der Kirche gefunden hätten. "Sie fühlten sich ungehört, nicht wahr- und ernstgenommen", so Faix. "Der Kirchenaustritt war dann ein letzter Aufschrei."