Glaube geht unter die Haut
Eng gedrängt schieben sich die Touristen durch die Christian Quarter Street in der Jerusalemer Altstadt. Zwischen Geschäften, vor denen sich bemalte Keramik, Olivenholzkreuze und Edelsteinketten stapeln, öffnet sich unter der Hausnummer 80 leise surrend eine Metalltür. Ausgetretene weiße Treppen winden sich durch ein enges Treppenhaus, im ersten Stock steht Wazzim Razzouk im Türrahmen. Er muss sich ducken, die Decken in der Wohnung hängen tief.
Koptische Familie tätowiert seit 700 Jahren
Wazzim hat schulterlanges Haar, lacht zur Begrüßung und führt ins Tätowierstudio: Ein Fenster in der Gewölbewohnung ist geöffnet, ein Muezzin ruft aus einer nahen Moschee zum Gebet, die Sonne fällt in die weiß gekalkten Räume, auf große Spiegel und eine Liege mit Lederbezug. Davor sitzt Maayana, eine junge Israelin. Auf ihrem Arm kleben zwei kleine Gefäße mit Farbe. Wazzim taucht die Nadel ins Schwarz und wirft seine Maschine an.
Seit rund 700 Jahren arbeiten die Männer der koptischen Familie Razzouk als Tätowierer. Ursprünglich in ihrem Herkunftsland Ägypten, seit einigen Generationen in der Jerusalemer Altstadt. Sie betreiben das älteste fortlaufende Tätowiergewerbe der Welt, sagt der 44-jährige Wazzim.
Er arbeitet bei seiner Kundin Maayana schnell und konzentriert: Auf die Innenseite ihres Oberarms schreibt er aus dem Ersten Korintherbrief, Kapitel 13, das Hohelied der Liebe. Die junge Frau sieht nicht hin, verzieht kaum eine Miene. Nur manchmal sieht man ihr den Schmerz an, den die Stiche verursachen müssen. Wazzim selbst hat viele Tätowierungen. Auf dem linken Unterarm ist der Gekreuzigte, am Handgelenk das koptische Kreuz eingraviert. So, wie es auch heute noch bei Kopten üblich ist. "Nach unserer Tradition", sagt er, "dient das koptische Kreuz am rechten inneren Handgelenk dazu, sich gegenseitig zu erkennen." Schon seine Vorfahren tätowierten ihren koptischen Glaubensbrüdern und -schwestern das Kreuz. Nur ihnen war es erlaubt, koptische Kirchen in Ägypten zu betreten.
Ein Stigma wird zur Identität
Ursprünglich ließen sich koptische Christen in Ägypten nicht freiwillig ihren Glauben unter die Haut stechen. Um 640 aber wurde das Land islamisch, Andersgläubige zu Ausgegrenzten: "Christen wurden gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Wer sich weigerte, wurde mit einem Kreuz auf der Hand gekennzeichnet." Wazzim Razzouk sagt, diese Stigmatisierung habe ihren Ursprung im Altertum: Bei den Griechen und in Rom sei eine Tätowierung ein Sklavenzeichen gewesen; so habe man Ausgestoßene erkannt.
„Ich liebe den Schmerz. Du liebst dein Tattoo. Du hast es dein ganzes Leben - es ist wie heiraten.“
Heute ist das koptische Kreuz gute Tradition geworden. Wazzim zeigt auf seinen Urgroßvater. Er sitzt auf einem verblichenen Foto in der Wüste, neben ihm eine Frau in schweren Kleidern. Der Großvater sticht das Kopten-Kreuz. Vor etwa 400 Jahren verließ die Familie Ägypten und ließ sich in der verwinkelten Altstadt von Jerusalem nieder. Mit hierher retteten sie ihren guten Ruf.
"Schon damals pilgerten koptische Christen unter schwersten Bedingungen von Ägypten aus ins Heilige Land. Für sie war das ein Höhepunkt in ihrem Leben", sagt Wazzim Razzouk. Sie pilgerten zum koptischen Kloster in Jerusalem. Und viele erinnerten sich an den tätowierenden Landsmann. Auch sie kamen schon in jene Straße, die heute Christian Quarter Street heißt. Sie baten um eine Tätowierung neben dem koptischen Kreuz am Handgelenk: Viele ließen sich das Wort "oschalim" für Jerusalem und das Datum ihrer Pilgerreise stechen. Das galt als Beweis, dass sie den beschwerlichen Weg ins Heilige Land bestanden hatten. Für Razzouk ist das der Anfang der religiösen Pilger-Tätowierung weltweit.
Tatsächlich lagen im Laufe der Jahrhunderte alle möglichen Menschen unter den Nadeln der Razzouks: selbst Mitglieder des englischen Königshauses, auch sie auf Pilgerfahrt ins Heilige Land. Offenbar trug Edward VII., Sohn von Königin Victoria, ein Jerusalemkreuz aus der Werkstatt der Razzouks. Wazzim zeigt die hölzernen Stempel, die schon seine Vorfahren nutzten, um Motive auf der Haut aufzubringen. Daraus, sagt er, habe sich die heute übliche Schablonentechnik entwickelt.
"Jede Menge Priester unter meiner Nadel"
Ob Christen, Muslime oder Juden - alle suchen das Atelier der Razzouks auf. Da ist es manchmal auch egal, ob ihr Glaube die Tätowierung eigentlich nicht erlaubt. Juden etwa ist es gemäß dem Buch Levitikus, Kapitel 19, nicht gestattet. "Ihr dürft euch keine Zeichen einritzen lassen", ist dort zu lesen: "Einige Leute sagen, dass es laut der Bibel verboten ist, sich tätowieren zu lassen. Andere sagen, nur das Tätowieren von Buchstaben und Zahlen sei nicht zulässig." Wer aber seine Werkstatt mit einem besonderen Wunsch aufsuche, bekomme den meist auch erfüllt: "Ich hatte jede Menge Priester unter meiner Nadel. Also, ich denke: Die Kirche erlaubt es. Und heute ist das sowieso eher eine Sache der Interpretation."
Rund um die Osterfeiertage stehen die Leute regelrecht Schlange. Dann ist Hochsaison für den Tätowierer. Priester drängeln sich neben äthiopischen Christen, Jerusalem-Fans und jüdischen Szenegängern aus Tel Aviv. Gefragt sind Ornamente, die Jungfrau mit Kind, die Kreuzigungsszene, das Jerusalemkreuz.
Gleichzeitig versucht Wazzim, mit der Zeit zu gehen: Er hat muslimische Kundinnen, die sich vor allem permanentes Make-Up unter die Haut ritzen lassen. Es werde unter die Haut gestochen, was gefällt: "Als ich das Studio von meinem Vater übernommen habe, habe ich beschlossen, mehr auf moderne Techniken zu setzen. Zugleich aber will ich die Familientradition bewahren - so weit wie möglich."
Blutige Tradition
Am Anfang erschien Wazzim Razzouk das Gewerbe zu blutig; sein Vater befürchtete schon das Ende der 700-jährigen Familientradition. Dann aber kam die Wende: "Als ich mich noch gegen das Tätowieren sträubte, arbeiteten bei uns einige russische Künstler aus Tel Aviv. Sie kamen vor allem während der Osterfeiertage, und ich war vollkommen beeindruckt von ihrer Art zu tätowieren." Von ihnen lernte er die neuen Techniken, vom Vater das Familienhandwerk. "So habe ich aus beidem das Beste gezogen."
Heute scheint die Erbfolge gesichert: Wazzims elfjähriger Sohn übt bereits zuhause - an künstlicher Haut. Er zeige großes Talent, sagt Wazzim: Ohne Bedenken würde er sich unter die Nadel des Sohnes legen.
Im Atelier greift Wazzim in der Jerusalemer Altstadt wieder zur Nadel und setzt sie erneut bei der jungen Jüdin Maayana an. Wieder verzieht sie nur leicht das Gesicht, als er sein Werk vollendet. Sie lacht auf die Frage, ob das nicht schwer auszuhalten ist, und sagt: "Nein, nicht wirklich. Ich liebe den Schmerz. Du liebst dein Tattoo. Du hast es dein ganzes Leben - es ist wie heiraten."
Von Silke Heine (KNA)