Glaube zwischen Bits und Bytes
Eine Mail ploppt auf: Drei Menschen möchten, dass für sie gebetet wird. Eine Frau weiß seit Kurzem, dass sie schwanger ist und hat Angst vor einer Fehlgeburt. Die andere Frau möchte ihre Tochter im Gebet wissen, die bald Prüfungen hat – und ein Mann betet für eine gute Rückenoperation im Krankenhaus. Mit einem Klick bestätigt man, für das Anliegen gebetet zu haben und die oder der Betreffende bekommt ein kleines Herzchen. Menschen beten für andere Menschen – das ist das Prinzip der Seite amen.de. Bei anderen Angeboten wie praybox.net darf nur mitmachen, wer unter 20 ist – aber das Prinzip ist mit "Teens beten für Teens" ähnlich. Nur ein paar Klicks entfernt kann man online Kerzen anzünden oder jeden Abend auf Twitter der "Twomplet" (ein Kofferwort aus "Twitter" und "Komplet") folgen und je nach Wunsch auch seine eigenen Gebetsanliegen in die Gemeinschaft einbringen. Dazu gibt es seit 1998 in der virtuellen Stadt "funcity" sogar eine voll ausgestattete Kirche.
Wer Glauben auch digital leben will, hat dazu heute viele Möglichkeiten: So lässt sich per App jeden Tag das Stundengebet ("Stundenbuch-App") aufrufen oder es gibt drei Mal am Tag von der neuen evangelischen App "xrcs" eine Frage wie "Was hörst du, wenn du in aller Stille nur deine innere Stimme hörst?" als Anregung zum Innehalten und Nachdenken. Zu lange etablierten Angeboten kommen stetig neue hinzu, die spirituelle Digitallandschaft wird breiter und bunter. Dadurch verändert sich auch die Spiritualität.
"Sie wird mobiler, interaktiver, emotionaler und individueller", sagt Matthias Sellmann, der als Professor für Pastoraltheologie an der Universität Bochum arbeitet. Durch digitale Medien seien spirituelle Angebote praktischer und ortsunabhängig verfügbar, außerdem spiele Feedback geben und mitmachen eine große Rolle. Durch die multimedialen Möglichkeiten würde Glauben sinnlicher und durch viele Apps habe jeder die Möglichkeit, das Angebot individuell auf sich zuzuschneiden. Digitale Angebote bieten also viele Möglichkeiten – aber nicht für alle: "Sind mir die Medien, der Umgang mit Smartphone und Internet vertraut? Wenn das zu meiner Welt dazu gehört, dann kann das für mich auch für Glauben und Spiritualität ein Hilfsmittel sein", sagt Andrea Imbsweiler. Es gäbe auch genug Menschen, die die digitale und spirituelle Sphäre ganz voneinander trennen, sagt die Referentin für Glaubensinformation und Online-Beratung, die bei der katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral in Erfurt arbeitet.
Pause per App
Für viele vor allem jüngere Menschen gibt es aber bereits keine Grenze mehr zwischen dem Online- und Offline-Leben, da sich beide Bereiche spätestens mit dem Siegeszug der Smartphones beinahe untrennbar miteinander verbunden haben: Das Internet ist nur einen Griff in die Hosentasche entfernt. Genau das schätzen auch viele Nutzer an spirituellen Angeboten im Netz: "Wenn ich möchte, dass jemand mit mir für eine bestimmte Sache betet, kann ich das sofort machen. Das ist eine niedrigere Schwelle, als jemanden anzusprechen", sagt Andrea Imbsweiler. Sie beobachtet, dass es vor allem Angebote für Alltagsspiritualität sind, die im Internet reüssieren. Es geht also nicht mehr darum, eine bestimmte Zeitspanne für das Gebet zu reservieren, sondern von den Apps im Alltag abgeholt zu werden – und damit auch für eine Pause vom Alltagsstress zu sorgen. Das merkt Imbsweiler auch ganz persönlich: "Ich bin nicht nur darauf angewiesen, mir morgens Zeit zu nehmen, um etwa einen Text zu lesen. Ich kriege das auf meinen Bildschirm geliefert." Manche Apps bieten sogar eine Art Weckerfunktion an, damit auch niemand die spirituelle Pause vergisst.
Ein weiterer wichtiger Faktor für den digitalen Glauben ist die Gemeinschaft: "Als Neuankömmling in einer Kirchengemeinde wird mir schnell signalisiert, was dort als ideale Form des Engagements gesehen wird. Im Internet kann ich selbst bestimmen, wie viel ich machen und wie ich mich engagieren möchte", sagt Wolfgang Beck, der an der Philosophisch-theologischen Hochschule Sankt Georgen am Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik arbeitet. Im Internet können sich Menschen jederzeit und unverbindlich über Glauben austauschen, gleichberechtigt und frei von jeder Hierarchie. Diese Gemeinschaften wirken dann auch in das Offline-Leben hinein: So hat der katholische Kirchenmusik-YouTuber Ludwig Martin Jetschke viele Musikinteressierte um sich geschart – die sich dann auch mal persönlich bei einem spirituellen Wochenende getroffen haben. Andersherum haben sich im Internet Gemeinschaftsformen entwickelt, die es bisher so nie gegeben hat: So gibt es mittlerweile Trauer-Portale, in denen für einzelne Verstorbene Profilseiten angelegt werden können und dann gemeinsam mit anderen erinnert und getrauert wird. So entstehen "neue Formen der Sepulchralkultur", sagt Wolfgang Beck.
Die Kirche verliert hier also ein Stück weit die Kontrolle über das, was ihre "Schäfchen" so treiben – was aber nicht nur am Internet liegt. "Kontrolle funktioniert eh nicht mehr. Es ist heute normal, dass jeder selbst entscheidet, was für ihn passt. Es ist nur noch eine Minderheit, die darauf achtet, dass das alles auch offiziell kirchlich ist", stellt Andrea Imbsweiler fest. "Menschen tun, was ihnen guttut, was sie brauchen und was sie suchen." Das sei oft das Problem, wenn sich die offizielle Kirche auf die Online-Welt einlasse, sagt Beck: "Es fällt auf, dass es immer wieder die Vorstellung gibt, man hätte Glaubensinhalte nur in einem unterschiedlichen Format zu kommunizieren und anzubieten. Das sind dann oft Rückfälle in ein eher doktrinäres Glaubensverständnis, das sich nur neuer Medien bedient." Der Theologe hält das nicht nur gegenüber dem Glauben für unangemessen, sondern auch gegenüber der Digitalität, die sich nicht so einfach in Dienst nehmen lasse. Denn: "Die Menschen glauben in großer Unterschiedlichkeit und haben das vermutlich immer getan. Es ist naiv, davon auszugehen, dass Menschen in vergangenen Jahrhunderten Menschen das geglaubt haben, von dem kirchliche Autoritäten gehofft haben, dass sie es glauben." Es sei also eher die Frage, ob es kirchliche Akteure schaffen, sich mit denen auszutauschen, die auf der Suche nach Spiritualität sind. Glaubt man Wolfgang Beck, ist da durchaus noch Luft nach oben.
Segen per Roboter
Die digitale Welt hat inzwischen auch das bisherige "Herzstück" des Glaubenslebens erreicht: Die heilige Messe. Es gab und gibt schon seit Jahren Experimente mit teilweise oder vollständig digitalen Gottesdiensten, manchmal sogar inklusive Segen per Roboter. Das wirft aus theologischer Sicht Fragen auf, denn die Liturgie ist darauf ausgerichtet, dass sowohl Priester wie auch Gemeinde physisch anwesend sind. Trotzdem lässt sich etwas beobachten, was auch schon für die mittlerweile fest etablierten Fernsehgottesdienste gilt: Die "Zuschauer" feiern mit und fühlen sich als Teil des Gottesdienstes. Das kann wiederum eine Triebfeder für die Offline-Welt sein. So berichtet Matthias Sellmann von einem Bistum in Brasilien, die sich die technischen Möglichkeiten gezielt zu Nutze macht: Dort gibt es große Gemeinden und wenig Priester, also wird nur in einer Kirche die Messe gefeiert und das dann in alle anderen Kirche der Pfarrei übertragen – wo die dortigen Gemeindemitglieder mitfeiern. Für Sellmann ist das in Zeiten des Priestermangels ein spannender Ansatz, vielleicht auch irgendwann für Deutschland.
Doch er gibt zu bedenken: Der digitale Glaube will gelernt sein. "Es braucht eine Art spiritueller Medienkompetenz für Glaubende." Man müsse unterscheiden können: "Wenn man dem amerikanischen Fernsehprediger mit einem wahnsinns-Entertainment zugehört hat, kann man nicht in seine Kirche gehen und das von seinem ganz normalen Gemeindepfarrer erwarten." Ähnliches gibt Andrea Imbsweiler für die Gebets-Apps zu bedenken: Wie in allen sozialen Netzwerken könne die Gemeinschaft dazu verführen, nur nach Zahlen zu gehen: "Wirkt das jetzt mehr, wenn fünf mitgebetet haben, als wenn nur einer mitgebetet hat?" Da sei es verführerisch, sich auch im Spirituellen selbst so optimieren zu wollen, wie etwa bei Selfies auf Instagram.
Wird sich Glaube also bald nur noch zwischen Bits und Bytes abspielen? Wahrscheinlich nicht. Denn wie andere kirchliche Angebote auch sind Gebets-Apps bisher kein Massenphänomen – und nur wenige machen dem bisherigen Gemeindeleben wirklich Konkurrenz. In der Regel geht es um persönliche Spiritualität: Früher hätte man sich Impulse aus Büchern oder Abreißkalendern geholt, "das hat auch nicht in der Pfarrei stattgefunden", sagt Andrea Imbsweiler. Sie geht davon aus, dass sich in Zukunft Mischformen von digitalen und analogen Gemeinschaften bilden, das Digitale den Gemeindealltag eher ergänzt. Auch Wolfgang Beck sagt: "Gefährlich wird es für Kirchengemeinden, die verschlafen sind. Für engagierte, fitte Kirchengemeinden ist es eine Chance, mit einem größeren Kreis von Menschen auf ganz unterschiedliche Weise in Kontakt zu sein."
Auf dem Weg zur "Cyber-Theologie"?
Während sich das Gemeindeleben durch die Digitalisierung ändern wird, ist noch nicht ganz klar, ob das auch für den Glauben selbst gilt. Der italienische Jesuitenpater Antonio Spadaro schrieb dazu in einem Beitrag für die Jesuiten-Zeitschrift "Stimmen der Zeit": "Die Frage lautet: Wenn die elektronischen Medien und die digitalen Technologien die Weise des Mitteilens und sogar des Denkens verändern, welche Wirkung haben sie dann auf die Weise, Theologie zu treiben?" Er regt eine eigene "Cyber-Theologie" an. Andrea Imbsweiler geht da nur zum Teil mit: "Die Digitalisierung verändert uns als Menschen, unsere Art zu denken und damit auch unsere Art zu Glauben." Das wirke sich aber weniger auf die Glaubensinhalte aus als vielmehr auf die Herangehensweise an den Glauben: So werde etwa Stille in einem stressigen Alltag wichtiger, wie die persönliche Beziehung zu Gott im Alltag. Dafür brauche es aber keine neue Theologie: "Dass Gott gegenwärtig ist, gehört längst zu unserer Theologie dazu", sagt sie. Theologe Beck sagt, dass die Kultur der Digitalität das Menschenbild verändere – und damit auch das Gottesbild: "Dass es da kulturelle Rückwirkungen gibt, ist nicht zu bestreiten. In welcher Form sie sich konkretisieren, ist noch offen. Ich glaube, dass es unerlässlich ist, zu einer Theologie der Digitalität zu kommen." Das werde aber kein Gesamtentwurf eines Theologen sein, sondern eher Fragmente.
Die sich weiter digitalisierende Welt wird weiter ein Thema bleiben: Für die Gläubigen im Alltag, an der App oder im Gottesdienst und für Theologen und Priester, die mit neuen Phänomenen arbeiten und umgehen müssen. Eines ist aber klar: Das Internet ist kein gottloser Raum.