Irland, wer bist du?
Der Irland-Besuch von Papst Franziskus müsste eigentlich ein Heimspiel sein. Immerhin reist er zum Weltfamilientreffen in ein Land, in dem sich 78 Prozent der Bevölkerung als Katholiken verstehen. Als Johannes Paul II. 1979 nach Irland kam, bewegte er ein ganzes Volk. Allein zur Messe im Dubliner Phoenix Park strömten laut offiziellen Zahlen 1,25 Millionen Menschen - ein Drittel der irischen Bevölkerung. Seine mitreißenden Worte zum Nordirland-Konflikt, sein Plädoyer für Frieden und Versöhnung sind unvergessen.
Johannes Paul II. lobte die Iren damals für ihre religiöse Hingabe, etwa mit Blick auf die immer gut besuchten Sonntagsmessen. Er warnte aber auch damals vor einer "Aushöhlung" der "allerheiligsten Prinzipien": "der Heiligkeit des Lebens, der Unauflöslichkeit der Ehe und dem wahren Sinn der menschlichen Sexualität". 39 Jahre später wirken seine Worte fast aus der Zeit gefallen; zu sehr hat sich die irische Gesellschaft seither verändert.
Die Kirche blickt machtlos auf den politischen Wandel
Irland hat seit 2017 nicht nur einen homosexuellen Premierminister. Es war 2015 das erste Land der Welt, das die rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare mit der traditionellen Ehe nach einem Volksentscheid in der Verfassung verankerte. Obwohl die irische Kirche die Iren aufgefordert hatte, gegen die sogenannte Homo-Ehe zu stimmen, sprach sich eine Mehrheit von 62 Prozent für diese Reform aus. Auch beim jüngsten Abtreibungsreferendum musste die Kirche machtlos feststellen, dass ihr Standpunkt nur wenig Gewicht hatte.
Zwei Drittel der Iren votierten im Mai für eine Verfassungsreform und damit gegen eines der strengsten Abtreibungsgesetze der Welt. Während zuvor Schwangerschaftsabbruch selbst nach Vergewaltigung, Inzest oder bei einer schweren Missbildung des Fötus unerlaubt war, soll künftig Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche ohne Nennung von Gründen möglich sein. Auch das Recht auf Scheidung und erneute Heirat haben die Iren 1995 per Referendum und gegen den Willen der Kirche durchgesetzt.
Papst Franziskus reist am 25. August in "ein ganz anderes" Irland, als es Johannes Paul II. 1979 kennenlernte. Das bestätigte selbst Dublins Erzbischof Diarmuid Martin kürzlich. Die Scheidungsrate mag im europäischen Vergleich mit 4,7 Prozent immer noch sehr gering sein; die Geburtenrate ist mit 14 Geburten pro 1.000 Einwohner im europäischen Vergleich sehr hoch, und noch immer gehen 41,3 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal wöchentlich zur Messe.
Vergleicht man das aber mit den Werten der frühen 80er Jahre, wird der Bruch deutlich. Damals waren Scheidungen noch nicht möglich, die Geburtenrate mit über 18 Geburten pro 1.000 Einwohner deutlich höher; und laut Zensus von 1984 gingen damals noch 87 Prozent der Bevölkerung mindestens wöchentlich zur Messe. Was ist seitdem passiert?
Die eigene Geschichte erschüttert die Kirche
Neben dem allgemeinen Säkularisierungstrend haben vor allem die Skandale der 90er Jahre die Glaubwürdigkeit der Kirche dauerhaft beschädigt. Ihre Vertreter mussten sich dem Vorwurf des mehrfachen Versagens stellen: Wie war es etwa möglich, dass der pädophile Priester Brendan Smyth über 40 Jahre unbescholten amtieren durfte, obwohl seine sexuelle Neigung bekannt war? Wieso versuchte die Kirche, den Skandal zu vertuschen, und stellte sich lange hinter den Täter statt hinter die Opfer? Und auch das Unrecht in Mutter-Kind-Heimen und sogenannten Magdalenen-Wäschereien verfolgte die Kirche - bis heute. Der jüngste Aufschrei um Massengräber für Kinderleichen neben einem Mutter-Kind-Heim im irischen Tuam füllte erst 2017 die Schlagzeilen.
Die Aufarbeitung der dunklen Kapitel ist längst nicht abgeschlossen. Opferverbände fordern, dass der Papst das Thema Missbrauch in kirchlichen Institutionen bei seinem Besuch thematisieren und sich mit Opfern treffen sollte. Franziskus wird in knapp 36 Stunden in Irland nicht alle Wunden heilen können. Aber er könnte wichtige Impulse für die Identitätssuche eines katholischen Landes im 21. Jahrhundert geben. Derzeit "kämpft die Kirche damit, einen neuen Platz in der irischen Gesellschaft und Kultur zu finden", resümiert Primas Martin. Es klingt, als wäre wieder ein Plädoyer für Frieden und Versöhnung angebracht - wie damals, 1979.