"Kirchenmusik ist auch für uns kein Wunschkonzert"
In der Gemeinde der Kirchenmusikerin Gudrun Drüke in Wetter an der Ruhr sitzt niemand mehr auf der Orgelbühne. Trotzdem fängt die Orgel sonntags wie von Zauberhand an "Fest soll mein Taufbund immer stehen" zu spielen. Wie das sein kann? Der Pastor vorne am Ambo hat kurz vorher den Knopf einer Fernbedienung gedrückt. "Wir haben – das darf man ja eigentlich gar nicht laut sagen – einen Orgamat. Die Orgel spielt also im Prinzip elektronisch über einen USB-Stick", verrät die junge Mutter. Das sei eine Notlösung gewesen, weil der letzte Organist der Gemeinde vor 10 oder 15 Jahren in Ruhestand gegangen sei.
Anders sieht es im 60 Kilometer entfernten Dorsten aus: Wenn ein Organist im Pfarrverbund krank wird, spielt Tobias Seidel meist als Vertretung. Dafür bekommt der 23-Jährige jedes Mal einen Liedplan, den der hauptamtliche Kirchenmusiker vorher erstellt habe. Da würden dann der Gemeinde bekannte Lieder "auf den Liedanzeiger geworfen". Weil er oftmals nicht wisse, was die jeweilige Gemeinde singen könne, würde Seidel sich an diesen Plan halten. "Aber auch wenn sich der Kirchenmusiker um abwechslungsreiche musikalische Gestaltung bemüht, bietet das Gotteslob einfach keine große Auswahl an singbaren Liedern für die Sonntagsliturgie". Deshalb könne er verstehen, wenn bei den Gläubigen "der Eindruck entsteht, dass man sonntags ständig die gleichen Lieder singt."
Neue und alte Schätze
Dagegen schwärmt Jörg Stephan Vogel von der Vielfalt: "Kirchenmusik ist wie eine Domschatzkammer." Natürlich diene sie zunächst der sinnlichen Gestaltung der Eucharistiefeier, sagt der Leiter der Bischöflichen Kirchenmusikschule Essen. Aber gleichzeitig öffne sich dem Kirchenmusiker ein Kreativraum, wie es ihn in kaum einem anderen musikalischen Beruf gebe. "Weil diese immer säkularere Gesellschaft sehr stark individuell auf Sinnsuche ist", bestünde eine große Nachfrage nach neuen oder anderen Formaten. Die Kirchen hätten nun die Chance auf diese Sinnsuche Antworten zu geben – auch musikalisch.
"Kirchenmusik berührt, sei es im Gottesdienst oder als Konzertformat", sagt Vogel bestimmt. Gerade für Menschen, die wenig Berührung mit Kirche hätten, müsse man auch niederschwellige Formate entwickeln. Dass diese keineswegs qualitätslos sind, wolle er in seiner Kirchenmusikschule vermitteln. Er halte nichts davon, wenn manche Kirchenmusikkollegen die Taizé-Gesänge als "simple Harmonieübungen" abtäten. "Einen Gesang wie 'Bleibet hier und wachet mit mir' muss man erstmal harmonisch so auf den Punkt bringen, das ist mit einfachen Mitteln eine geniale Komposition." Gerade für die vielen verschiedenen Stadt- und Dorfgemeinden im Ruhrbistum brauche es vielfältige Angebote, die sich an die jeweiligen Gemeinden, einzelne Gläubige oder auch Säkulare richteten.
Doch lässt sich das in der Praxis überhaupt umsetzen, wenn man wie Tobias Seidel nur für Vertretungen an der Orgel sitzt oder sich ehrenamtlich engagiert wie Gudrun Drüke? 2016 hat sie ihre C-Prüfung an der Kirchenmusikschule in Essen bestanden. Trotzdem sitze Drüke jetzt sonntags nicht vor Registern und Pfeifen. "Ich bin ein spezieller Fall von Kirchenmusiker. Ich spiele in der Kirche in der Regel Klavier." Allein oder zusammen mit ihrer Band begleite sie besondere Anlässe wie Familiengottesdienste oder Jugendmessen.
Dabei seien die Rollen allerdings verteilt: "Unserem Pastor gefällt es nicht so gut, wenn wir Gotteslob-Lieder mit der Band spielen. Deshalb übernimmt das dann der Orgamat. Wir machen den Rest." Und mit 'Rest' meint Drüke hauptsächlich Stücke des Neuen Geistlichen Lieds oder mal den Gospel-Klassiker "Oh happy day" für eine Hochzeit. Die Band bemühe sich um Vielfalt und erweitere ihr Repertoire stetig. Trotzdem würden sie bei gefühlt jeder Erstkommunion "Danke für diesen guten Morgen" spielen. "Diese Lieder sind halt total abgenudelt", sagt Drüke. Mit ihren eigenen Interpretationen versuchten sie dann ein Pop-Feeling zu vermeiden, damit das "nicht wie aus dem Radio" klingen würde.
Es wird mehr Vielfalt geben (müssen)
"Noch haben Ehrenamtliche und Nebenberufliche in der Tat wenig Gestaltungsfreiraum", sagt auch Vogel. "Aber der klassische Beruf des Kirchenmusikers wandelt sich gerade. Die Formel 'ein Organist, eine Kirche, ein Chor' gilt nicht mehr." In vielen deutschen Diözesen gibt es große Pfarr- oder Gemeindeverbände. Und alles sieht danach aus, dass diese Strukturen sogar noch weiter wachsen werden. Gleichzeitig ist die Zahl der hauptberuflich arbeitenden Kirchenmusiker rückgängig. Ein hauptberuflicher Kirchenmusiker wird laut Vogel deshalb bald für eine ganze Region und viele Menschen zuständig sein, die sich in irgendeiner Weise musikalisch einbringen möchten.
"Dann kann man nicht mit Martinshorn und Blaulicht herumfahren und alle Messen selbst spielen wollen. Stattdessen geht es darum, die verschiedenen Aspekte wie ein Kulturmanager sinnvoll zu vernetzen." Das bedeutet auch, stärker Aufgaben an die nebenberuflichen und ehrenamtlichen Kirchenmusiker abzugeben. Schon jetzt kommen laut Deutscher Bischofskonferenz auf die 1.355 Hauptberuflichen 12.688 ehrenamtliche und nebenberufliche Kirchenmusiker, das ist ein Verhältnis von fast 1:10. Mit der zweijährigen kirchenmusikalischen C-Ausbildung an einer Kirchenmusikschule haben sie sich für den Dienst als Chorleiter oder Organistin qualifiziert. Zum Vergleich: ein hauptamtlicher Kirchenmusiker hat in der Regel vier bis sechs Jahre lang an einer Musikhochschule studiert und entweder die B- oder die A-Prüfung absolviert.
Keine Experimente!
Idealerweise übernehmen dann mehrere Kirchenmusiker einzelne Aufgaben in einer Gemeinde und arbeiten als Team eng vernetzt zusammen. So ähnlich wie das bei Tobias Seidel jetzt schon ist: "Ich spiele ab und zu Vertretungen als Organist, meine Haupttätigkeit in der Gemeinde besteht aber in der Chorleitung." Und hier hat er mehr Spielraum. Gerade würden sie für ein Konzert Kirchenchorstücke aus dem 17. Jahrhundert proben. Moderne Chorliteratur mache Seidel nicht, weil es in der Gemeinde auch noch einen Gospelchor gebe, den ein Kollege leite. Sein Chor sei "ein ganz normaler Kirchenchor, den es seit 40 Jahren gibt und in dem auch noch ein paar Mitglieder der ersten Stunde mitsingen".
Die Devise, die Kirchenmusikschulleiter Vogel an seine ehrenamtlichen und nebenberuflichen Kirchenmusiker ausgibt, lautet: "Gestaltungsräume entdecken und mit eigenen Ideen ausfüllen". Viele Gemeinden seien offen und dankbar für neue Impulse. Wenn Gudrun Drüke experimentieren will, macht sie das beim Kommuniongang. "Da kann man Lieder spielen, die die Gemeinde noch gar nicht kennt und sie so an die neuen Töne gewöhnen." Irgendwann könne man die Lieder dann als normale Gemeindegesänge einbauen und so das Repertoire erweitern. "Wir spielen aber auch gerne mal etwas Klassisches, wie den Pachelbel-Kanon oder Gregorianik." Sie sangen das zu dritt und Drükes Schwester spielte dazu Improvisationen auf der Querflöte. "Die Gemeinde fand das großartig", erinnert sie sich.
Als Kirchenmusiker müsse man seiner Gemeinde die Vielfalt der Kirchenmusik auch ein bisschen verkaufen, sagt Seidel. "Man kann nicht einfach mit einem tollen gregorianischen Choral um die Ecke kommen und das top-down aufdrücken." Man müsse die Gemeinde mitnehmen und ihr überhaupt ermöglichen, Freude am Neuen oder Unbekannten zu finden. Das erfordere Zeit, Inspiration und Begeisterung – und auch Kontexte abseits der Sonntagsmesse. "Gerade mit einem Kirchenchor und Konzertformaten hat man da die Chance, neue Gesänge an die Gemeinde heranzutragen."
Das Engagement der ehrenamtlichen und nebenberuflichen Chorleiter und Organisten wird in deutschen Gemeinden immer wichtiger. Denn das ist etwas, was ein Orgamat nicht auf Knopfdruck abspielen kann.
24.01.19, 16:00 Uhr: Absatz Zwei erweitert.