Margot Käßmann hinterlässt eine große Lücke
Für die evangelische Kirche war es eine Zäsur: Als Margot Käßmann am Samstag in der Hannoveraner Marktkirche in den Ruhestand verabschiedet wurde, ging nicht einfach nur eine kirchliche Karriere zu Ende. Der deutsche Protestantismus verlor an diesem Tag sein wichtigstes Aushängeschild. Die 60-Jährige ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und langjährige Bischöfin von Hannover war über viele Jahre die wohl bekannteste Persönlichkeit ihrer Kirche. Mit ihrem vorzeitigen Abschied in die Rente hinterlässt sie eine Lücke, die nur schwer zu schließen sein dürfte.
Dabei wäre die evangelische Kirche heute mehr denn je auf Geistliche wie Käßmann angewiesen, ist der Göttinger Theologieprofessor Jan Hermelink überzeugt. Käßmann habe die Gabe gehabt, "den Glauben auf eine Weise zu verpacken, die leichter verständlich ist". Die Art und Weise, wie die ehemalige Bischöfin gewirkt habe, sei richtungsweisend für die Zukunft der Kirche. "Für die Kirche als Institution war sie ein Glücksfall", so Hermelink.
"So muss Kirche operieren, sonst kommt auf Dauer keiner mehr"
"Der große Erfolg von Margot Käßmann beruht darauf, dass sie in ihrer ganzen Präsenz möglichst nah bei den einfachen Menschen ist, die sich mit ihr identifizieren können", sagt auch Gerhard Wegner, der Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD. Auch ihr Privatleben habe sie nicht verborgen – ob ihre Scheidung, ihre Krebserkrankung, die verhängnisvolle Alkoholfahrt im Februar 2010 und in deren Folge ihr Rücktritt von der EKD-Spitze. Käßmann sei es gelungen, den christlichen Glauben so rüberzubringen, dass er anschlussfähig gewesen sei in der Gesellschaft; sie habe eine andere Tönung und Ansprache gefunden. "So muss Kirche operieren, sonst kommt auf Dauer keiner mehr", ist Wegner überzeugt.
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Erst der steile Aufstieg, dann der tiefe Fall und später die Rehabilitierung: Margot Käßmanns kirchliche Karriere glich einer Achterbahnfahrt. Jetzt geht die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende in den Ruhestand.Allerdings: Den Bedeutungsverlust der evangelischen Kirche in Deutschland konnte auch der "Star" Käßmann nicht aufhalten. Seit der Jahrtausendwende – ein Jahr zuvor war Käßmann Bischöfin von Hannover geworden – sank die Zahl der Protestanten in Deutschland von mehr als 26 Millionen auf heute nur noch rund 22 Millionen. War die evangelische Kirche noch im Jahr 2001 die größte Religionsgemeinschaft in der Bundesrepublik, liegt sie inzwischen hinter der katholischen Kirche auf Platz zwei. Deren Mitgliederzahlen gehen zwar auch seit vielen Jahren zurück, der Rückgang ist aber deutlich schwächer.
Zuletzt schlug die evangelische Theologin Dorothea Wendebourg deutlich Alarm. Sie sehe ihre Kirche in großer Gefahr, sagte die Berliner Professorin Mitte Juni im Deutschlandfunk. Neben fehlender Disziplin und Lebendigkeit in manchen Gemeinden kritisierte Wendebourg in dem Interview unter anderem "liturgischen Wildwuchs" und fehlende Gottesdienstzentrierung.
Kritik an liturgischem Wildwuchs und schlechten Predigten
"Man hat doch viel Wildwuchs in Gottesdiensten, liturgischen Wildwuchs, Gebetsformulierungen, schlecht vorbereitete Predigten", so die Theologin. Ihrer Ansicht nach sollten sich Pastorinnen und Pastoren "mehr an der Kandare reißen" und selbstkritischer sein: "Nicht alles, was einem gerade mal so einfällt, ist deswegen schon wunderbar für alle anderen."
Auf ihrer Synode im vergangenen November in Bonn – kurz nach dem Ende des Reformationsjubiläums – hatte sich die EKD intensiv mit ihren Zukunftsperspektiven in einer säkularisierten Gesellschaft beschäftigt. Erste mögliche Antworten gaben damals externe Experten. Der Sonntagsgottesdienst müsse nicht nur einladender und professioneller, sondern vor allem auch kürzer werden, riet der Religionssoziologe Detlef Pollack. Viele Menschen hätten am Sonntag schlichtweg anderes zu tun, was ihnen wichtiger sei. "Wir erleichtern es Menschen, am Gottesdienst teilzunehmen, wenn er kürzer ist", so Pollack.
Der Soziologe empfahl der Kirche darüber hinaus, ihr Geld am Besten in die Kinder- und Jugendarbeit zu investieren. Dies diene der religiösen Sozialisation der Menschen. Wer sich einmal von der Kirche verabschiedet habe, komme dagegen in der Regel nicht wieder. Nicht einmal ein Prozent der Konfessionslosen denke ernsthaft über einen Kircheneintritt nach. "Die Verbreitung des Evangeliums an alles Volk mag theologisch geboten sein", so Pollack. Unter zweckrationalen Gesichtspunkten sei es aber effektiver, "sich vor allem um diejenigen zu kümmern, die noch in der Kirche sind und an ihrem Rande stehen".
Der Historiker Lucian Hölscher empfahl der evangelischen Kirche, ihren Kampf gegen den Säkularismus aufzugeben, die Zahl expliziter Kirchenfeinde sei heute geringer als früher. Was der Kirche fehle, sei ein Konzept für den Dialog mit der säkularen Gesellschaft. "Die Kirchen sind weniger allein und gefährdet, als es die rückläufigen Mitgliedschafts- und Teilnahmezahlen suggerieren", meinte Hölscher.
Ein Zugpferd a la Käßmann ist nicht in Sicht
Aufhorchen ließ bei der Synode zudem eine Debatte über mögliche neue Formen der Kirchenmitgliedschaft. Es gehe darum zu prüfen, ob es künftig eine abgestufte Mitgliedschaft in der Kirche geben solle, sagte damals der Vizepräses der EKD-Synode, Klaus Eberl. Solch eine "Mitgliedschaft light" entspreche dem Bedürfnis vieler Menschen, Kirche erst einmal von einer gewissen Distanz auszuprobieren. Am Ende einigte sich die Synode darauf, über "neue, ergänzende oder alternative Formen der Beteiligung am kirchlichen Leben oder der Zugehörigkeit zur Kirche" nachzudenken.
Die Debatten haben gezeigt: Die evangelische Kirche ist auf der Suche nach ihrem gesellschaftlichen Standort. Welche Rolle kann und will sie in Zukunft spielen? Wie kann sie wieder mehr Menschen für sich begeistern? Und welche Sprache ist dafür notwendig? Jemand wie Margot Käßmann würde bei der Beantwortung dieser Fragen sicher helfen. Doch ein ähnlich massentaugliches Zugpferd ist in den Reihen der EKD derzeit nicht in Sicht. (mit Material von dpa)