Religionssoziologe Pollack zu Anstieg bei Kirchenaustritten

"Menschen sollten auch darüber reden, was sie an Kirche bindet"

Veröffentlicht am 20.07.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die großen Kirchen in Deutschland verzeichnen für das Jahr 2018 einen starken Anstieg von Austritten. Der Religionssoziologe Detlef Pollack blickt im Interview auf mögliche Gründe und Gegenmaßnahmen sowie die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte.

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Frage: Herr Pollack, welche Gründe sehen Sie für die Kirchenaustritte?

Pollack: Man muss unterscheiden zwischen Austritten aus der evangelischen und der katholischen Kirche. Wir haben relativ gute Daten, was die Kirchenaustrittsmotive aus der evangelischen Kirche angeht. Ganz wichtig ist, dass Menschen die Kirche verlassen, weil sie mit dem Glauben nichts mehr anfangen können, weil ihnen die Kirche nichts sagt, weil ihnen Kirche gleichgültig geworden ist. Das spielt bestimmt auch für einige Austretende aus der katholischen Kirche eine Rolle.

Frage: Gibt es noch weitere Gründe?

Pollack: Ein anderer Punkt ist, das betrifft vor allem die katholische Kirche, dass man unzufrieden ist, sich an der Kirche reibt – und da spielt natürlich der Missbrauchsskandal eine große Rolle. Das ist für die evangelische Kirche nicht so zentral. Wir haben immer wieder Umfragen durchgeführt in der evangelischen Kirche und danach gefragt, ob man die Stellungnahmen der Kirche kritisiert oder ob man mit der Arbeit der Pfarrerinnen und Pfarrer nicht zufrieden ist. Das ist ein eher unbedeutender Grund.

Frage: Und welcher ist prominenter?

Pollack: Ganz wichtig ist, dass man die Kirchensteuer sparen möchte. Das ist immer wieder ganz entscheidend. Und vielleicht ein letztes Motiv. Viele von denen, die aus der evangelischen Kirche austreten, sagen, man könne auch ohne Kirche gläubig und christlich sein.

„Die Kirchen sind im Grunde genommen diesem Abwärtstrend wie einem unausweichlichen Schicksal ausgesetzt und können nicht allzu viel tun, um ihn zu stoppen oder umzukehren.“

—  Zitat: Detlef Pollack

Frage: Was zeigt sich denn im Vergleich zur Vergangenheit?

Pollack: Vor 20, 30 Jahren lag die Kirchenaustrittsrate aus der katholischen Kirche immer deutlich unter der der evangelischen Kirche, um 0,3 bis 0,4 Prozentpunkte. Das ist weniger geworden. Man könnte sagen, die katholische Kirche hat aufgeholt, und inzwischen ist es so, dass die Kirchenaustrittsrate aus der evangelischen Kirche bei ungefähr 1,0 Prozent liegt und in der katholischen Kirche bei 0,9 Prozent.

Frage: Es gibt also eine Annäherung ...

Pollack: Das weist darauf hin, dass sich bestimmte Faktoren, die Menschen bisher an die katholische Kirche gebunden haben, abschwächen. Nämlich dass man viel von der Kirche hält, dass man sich mit der Kirche tief verbunden fühlt, dass man die Sakramente nicht missen möchte. Dass man sich durch die Eltern, die Familie an die Kirche gebunden fühlt. Diese Bindungskräfte schwächen sich ab. Das hat sehr viel mit den Missbrauchsskandalen zu tun und sehr viel mit der öffentlichen Diskussion darüber.

Frage: Was bedeuten die heute bekannt gewordenen Zahlen aktuell für die Kirchen, auch auf lange Sicht?

Pollack: Das heißt vor allem, dass die Kirchen den Abwärtstrend nicht stoppen oder gar umkehren können – obwohl sie sich darum bemühen, Transparenz in ihr Handeln zu bringen oder sich schuldig bekennen, wenn Missbrauchsfälle bekannt werden. Dieser Trend ist nicht ganz linear, es gibt Ausnahmen, aber wenn man das über Jahrzehnte hinweg seit den 60er Jahren betrachtet, haben wir einen kontinuierlichen Anstieg der Kirchenaustrittsrate. Heute sind die Zahlen selbst in den Kirchenaustritts-Tälern deutlich höher als vor 30, 40 Jahren. Die Kirchen sind im Grunde genommen diesem Abwärtstrend wie einem unausweichlichen Schicksal ausgesetzt und können nicht allzu viel tun, um ihn zu stoppen oder umzukehren.

Frage: Kann denn dann der in der katholischen Kirche geplante "synodale Weg" zum Thema Reformen überhaupt etwas bewirken?

Pollack: Ganz gewiss hilft der. Die Austrittsraten könnten ja noch höher sein. Das ist schon sehr wichtig. Man muss aber die begrenzte Kraft und Wirksamkeit solcher Aktivitäten ins Auge fassen. Wenn man mal die Erfahrungen der evangelischen Kirche zu Rate zieht, dann sieht man, dass der Versuch, die Gläubigen einzubeziehen durch Reformen, der seit Jahrzehnten unternommen wird, letztlich nicht so viel bringt. Die Kirchenaustrittsraten sind in der evangelischen Kirche ja noch höher als in der katholischen Kirche.

Porträt von Professor Detlef Pollack
Bild: ©Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Detlef Pollack ist Religionssoziologe und forscht am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Frage: Auch ohne Missbrauchsskandal ...

Pollack: Genau. Aber viele Menschen können zwischen dem, was typisch katholisch ist und typisch evangelisch, gar nicht unterscheiden. Für sie ist das dann "die Kirche", und Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche oder Äußerungen des Papstes, die einen stören, haben oft auch Auswirkungen auf die Bindung in der evangelischen Kirche.

Frage: Wie können die Kirchen gegensteuern?

Pollack: Ich finde es vollkommen richtig, dass man versucht, die, die in der Kirche sind, stärker einzubeziehen und ihnen eine Stimme zu geben. Dann kommt es ganz stark darauf an, dass man die, die noch in der Kirche sind, aber schon darüber nachdenken, auszutreten, versucht zu erreichen. Also keine Strategie der Missionierung, sondern eine Strategie, sich um diejenigen zu kümmern, die am Rande der Kirche stehen, noch immer ihre Kirchensteuer bezahlen und gelegentlich zu Gottesdiensten gehen und vielleicht sogar eine gewisse Hochachtung der Kirche gegenüber aufbringen. Seit Jahrzehnten sind es immer so 10 bis 15 Prozent, die kurz davor sind, auszutreten.

Frage: Haben Sie noch weitere Vorschläge?

Pollack: Ich denke, dass die Menschen in der Kirche anfangen müssen, über die Kirche gut zu reden. Wenn die ganze Zeit nur Kritik geübt wird, dann hat das eine verheerende Wirkung auf das Image der Kirche. Und es wäre wahrscheinlich auch am besten, wenn die Menschen außerhalb der Kirche gut über sie reden würden. Durch Kommunikation und eine Veränderung des Diskurses kann man auch einiges erreichen.

Frage: Halten Sie solche Aktionen wie "Maria 2.0" für kontraproduktiv?

Pollack: Das würde ich nicht sagen. Das sind ja hochengagierte Frauen, die an der Kirche leiden und nicht genug gehört werden. Ich würde sagen, dass auch für diese sehr kritischen und zum Teil auch provokativen Aktionen Raum in der Kirche sein muss. Aber das darf nicht alles sein. Es sollten sich auch die zu Wort melden, die brav jede Woche zur Messe gehen und darunter leiden, dass die Kirche so ein schlechtes Image hat. Sie sollten darüber reden, was sie an die Kirche bindet. Warum sie sie gut finden und was sie für sie bedeutet. Die Änderung beginnt damit, dass man es lernt, anders zu denken.

Von Leticia Witte (KNA)