Missbrauch in der Kirche: Sind wirklich die Homosexuellen schuld?
Missbrauch in der Kirche ist ein männliches Problem: Die Täter sind Männer, die Opfer in der Regel Jungen. Mit einem Anteil von 63,8 Prozent sind sie deutlich überrepräsentiert, resümiert auch die von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebene MHG-Studie. In Reihen der Glaubenskongregation im Vatikan geht man weltweit sogar von mehr als 80 Prozent aus. Woran das liegt?
Für erzkonservative Kreise ist klar: Es sind homosexuelle Taten, die gleichgeschlechtliche Orientierung ist also das Problem. Und tatsächlich: Die MHG-Studie hat bei 19 Prozent der Täter Hinweise auf eine homosexuelle Orientierung gefunden. In Einzelinterviews lag sie noch deutlich höher. Der US-Theologe Timothy J. Dailey hat Zahlen wie diese zum Anlass für folgende These genommen: Es gibt prozentual deutlich mehr Übergriffe von Männern auf Jungen, als es Homosexuelle in der Gesellschaft gibt. Dass sie als Täter überrepräsentiert sind, nimmt Dailey dann zum Anlass für die Vermutung, dass Homosexuelle generell eher zum Kindesmissbrauch neigten. Dailey kann zwar Einzelaspekte seiner These mit Studien belegen. Eine schlüssige Gesamterklärung liefert er aber nicht.
Das liege daran, dass es zwischen Homosexualität und Pädophilie eben keinen unmittelbaren Zusammenhang gibt, sagt Klaus Michael Beier im Gespräch mit katholisch.de. Der Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist Professor und Direktor des Instituts für Sexualmedizin an der Berliner Charité. Die sexuelle Präferenz des Menschen manifestiert sich in der Pubertät auf unterschiedlichen Achsen: dem Geschlecht des begehrten Partners (männlich, weiblich oder beide Geschlechter), dem körperlichen Entwicklungsalter des begehrten Partners (kindliches, jugendliches, erwachsenes Entwicklungsalter) sowie der Art und Weise der Interaktion mit dem begehrten Partner. Hier sind alle denkbaren Kombinationen möglich. Wer auf der Achse eins auf das männliche Geschlecht ausgerichtet ist, kann also auf der Achse zwei auf verschiedene Körperschemata ansprechen und wer auf das erwachsene Körperschema sexuell angezogen wird, ist eben nicht auf das kindliche Körperschema orientiert. "Dabei handelt es sich um Programmierungen, die eine hohe Stabilität aufweisen und eben nicht veränderbar sind, was zugleich bedeutet, dass diejenigen, bei denen eine Ansprechbarkeit für das kindliche Körperschema besteht, die volle Verantwortung haben, dass sich diese nicht auf der Verhaltensebene umsetzen", erklärt Beier.
Ob Mädchen oder Jungen Opfer von Missbrauch werden, hängt meist von anderen Faktoren als der sexuellen Veranlagung ab: In Familien, wo die meisten Missbrauchstaten stattfinden, sind die Opfer vor allem weiblich. Oftmals gilt dort noch das Bild des "braven" Mädchens, das vor allem einfühlsam und emotional ist, aber nicht mutig für seine Rechte eintritt. Mädchen sind als Opfer also leichter verfügbar. Mit der Verfügbarkeit ist es im kirchlichen Umfeld genau umgekehrt: Messdiener waren bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil ausschließlich Jungen, sie stellten auch die Mehrzahl in Internaten und Heimen. Priester hatten mit ihnen also viel häufiger zu tun und machten sie zu Opfern.
Dass man Homosexuellen nicht per se eine größere Missbrauchsaffinität andichten kann, glaubt auch der sonst als eher konservativ geltende Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Zwar ist er weiterhin für einen Ausschluss Homosexueller vom Priesteramt. Im Gespräch mit katholisch.de sagt der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation über den Missbrauch von Jungen durch Geistliche aber auch, dass "man nicht den Schluss ziehen kann", Homosexuellen neigten mehr zum Kindesmissbrauch. Dieser Beschuldigung "müssen wir uns grundsätzlich enthalten".
"Moralische Hemmschwelle" in den 1960er und 1970er Jahren gesunken
Den Hauptgrund für den Missbrauch sieht Müller eher darin, dass in den 1960er und 1970er Jahren die "moralische Hemmschwelle" für solche Taten abgesunken sei. Damit schließt er sich der Argumentation eines Aufsatzes des emeritierten Papstes Benedikt XVI. an, laut dem es zur "Physiognomie der 68er Revolution" gehört habe, dass auch Pädophilie erlaubt sei. Doch auch diese Argumentation hat zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen. Nicht nur, dass Missbrauch lange vor der "sexuellen Revolution" ein Problem der Kirche war. Auch blende Benedikt die "strukturellen Ursachen für die Übergriffe" aus, sagte etwa der Sprecher der Opferinitiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch. Die Analyse des emeritierten Papstes gehe daher "völlig an der Sache vorbei".
Die These vom "Missbrauchs-Aufschwung" durch die 68er lässt sich auch mit Blick auf die Fakten nicht aufrechterhalten: Die MHG-Studie hat zwar eine Ballung von Beschuldigungen gefunden, die aber schon seit Mitte der 1950er bis in die 1970er Jahre hinein. Zu bedenken bleibt hier zudem: Fälle werden einerseits erst nach langer Zeit gemeldet, können also noch weiter zurückliegen. Andererseits sind auch die Priesterzahlen größeren Schwankungen unterworfen. Laut den Forschern spricht daher einiges dafür, dass das Verhältnis von Priestern und Missbrauchsfällen über die Jahre eher konstant geblieben ist.
Was aus Sicht der Forscher dagegen eine große Rolle spielt, ist das "System Priester" und damit verbunden auch der Zölibat. Der ist zwar nicht allein der Grund für Missbrauch, war aber in der Vergangenheit zumindest ein "Angebot" für ein gewisses Klientel: Wer gläubig aufwächst und feststellt, dass er auf das gleiche Geschlecht oder auf das kindliche Körperschema "steht", empfindet das häufig erst einmal als "falsch" und möchte sich oft gar nicht mit seiner sexuellen Ausrichtung auseinandersetzen. Es herrscht die Angst, sein Leben nicht "gottgefällig" führen zu können und von der Gemeinschaft ausgegrenzt oder sogar verstoßen zu werden. Vor diesem Hintergrund ist das Priesteramt scheinbar die perfekte Lösung: Im Zölibat soll Sexualität ja gerade keine Rolle spielen und wenn das gelingt, besteht auch keine Gefahr, sozial "gebrandmarkt" zu werden. Es ist sogar umgekehrt: Es winken Autorität und Anerkennung. So zu denken, ist keine Ausnahme, bestätigen die MHG-Studie wie auch der Berliner Sexualmediziner.
Der Psychotherapeut Beier geht deshalb davon aus, dass es unter Priestern deutlich mehr sexuelle Minderheiten gibt als im Durchschnitt der Bevölkerung – belastbare Zahlen gibt es dazu jedoch nicht. Laut Untersuchungen aus den USA sind dort bis zu 30 Prozent der Priester und Ordensleute homosexuell. Der Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller, der jahrzehntelang im "Recollectio Haus" in Münsterschwarzach Priester in Problemsituationen betreut hat, spricht für Deutschland von "weit über 20 Prozent".
Zwar gibt es das Phänomen der Flucht vor der eigenen Sexualität auch bei Frauen, im kirchlichen Bereich werden sie dann zum Beispiel Ordensschwestern. Es ist bei Männern aber weiter verbreitet. Das könnte damit zusammenhängen, dass männliche Jugendliche früher beginnen zu masturbieren und dies auch häufiger tun. Da bei jedem Orgasmus die "neuronale Verschaltung" im Gehirn ausgebaut wird, wäre denkbar, dass Männer generell eine größere Bandbreite an sexuellen Präferenzbesonderheiten während der Pubertät ausbilden. Klinisch ist dies laut Beier "ganz eindeutig" der Fall und betrifft beispielsweise sexuelle Neigungen, die nicht mit Fremdgefährdung verbunden sind, wie den Fetischismus, also die sexuelle Erregungssteigerung durch verschiedene Stoffe oder Objekte. Auch empirisch ist hier der Geschlechtsunterschied offensichtlich, da fetischistische Neigungen viel häufiger bei Männern auftreten.
Innere Spannung durch jahrelange Tabuisierung
Durch die jahrzehntelang völlige Tabuisierung von Sexualität hat sich bei vielen Priestern eine innere Spannung aufgebaut. Denn ihre Begehren ließen sich nicht so einfach abstellen wie erhofft. Das führte dazu, dass Priester auf Versuchungssituationen nicht vorbereitet waren und diese irgendwann nicht mehr kontrollieren konnten. Auch das belegen die Zahlen der MHG-Studie. So wurden Priester meist erst viele Jahre nach der Weihe das erste Mal übergriffig. Psychotherapeut Beier argumentiert ebenfalls in diese Richtung: "Wenn Sie ihre Neigung nicht in die Persönlichkeit integriert und als Teil von sich akzeptiert haben, dann ist klar, dass sie im Kontakt mit den sexuell präferierten Personen innerlich unvorbereitet sind und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich die sexuellen Impulse auf der Verhaltensebene etablieren". Das könne schon mit vermeintlich dem Kind dienenden Aufklärungsgesprächen über sexuelle Themen ihren Anfang nehmen – in Wirklichkeit sind die eigenen Interessen der "Motor des Geschehens". Umgekehrt kann derjenige, der seine sexuellen Präferenzbesonderheiten integriert hat, die eigenen Impulse zuordnen und sicher kontrollieren – was einen verantwortungsvollen Umgang kennzeichnet.
Hinzu kam, dass sich diese Spannung auch nach außen entlud. So geht etwa der Theologe James Alison davon aus, dass sich Probleme mit der eigenen sexuellen Orientierung bei Klerikern häufig in schriller Homophobie äußern. "Die hauptsächlichen klerikalen Kreuzzügler in dieser Arena stellen sich selbst als homosexuell heraus − in einigen Fällen so tief in der Verleugnung (ihrer sexuellen Orientierung), dass sie nicht darum wissen", schreibt er in einem Artikel für die britische Zeitschrift "The Tablet".
Themenseite: Missbrauch
2010 wurde erstmals eine größere Zahl von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche in Deutschland bekannt. Seitdem bemüht sich die Kirche um eine Aufarbeitung der Geschehnisse. Bei ihrer Vollversammlung veröffentlichen die deutschen Bischöfe am 25. September 2018 eine Studie, die die Missbrauchsfälle im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz zwischen 1946 und 2014 dokumentiert.Wie also mit den neuen Erkenntnissen und dem "System Priester" umgehen? Beier fordert, dass sich jeder werdende Priester noch stärker seine sexuelle Präferenzstruktur in allen Facetten bewusst macht. Nur so könne man zu einer sicheren sexuellen Identität kommen – egal, wie diese aussieht. Das gilt für ihn "ganz selbstverständlich auch für Männer mit pädophiler Sexualpräferenz – Geschöpfe Gottes wie jeder andere auch".
Was ihm fehlt, ist ein Signal "von oben" an alle Priester einer sexuellen Minderheit, das lautet: "Ihr gehört zu uns." Dass es zu diesem Befreiungsschlag seitens des Vatikans offiziell kommt, ist momentan aber eher unwahrscheinlich. Erst kürzlich hat der Vatikan noch einmal den Ausschluss von Menschen mit "tief sitzenden homosexuellen Tendenzen" von der Priesterweihe bekräftigt.
In vielen deutschen Priesterseminaren sieht die Realität aber anders aus. Dort ist die Sexualität der Kandidaten mittlerweile ein selbstverständlicher Teil der Vorbereitung auf das Amt. Zukünftige Priester sind mit Begleitern stets darüber im Austausch. Die sexuelle Orientierung steht dabei nicht im Vordergrund: Wer sich mit seiner Sexualität auseinandergesetzt hat und den Zölibat einhalten kann, kann auch zum Priester geweiht werden. Egal, wie er orientiert ist.