Mit Kippa und Gebetsschal: Auf dem Weg zur Rabbinerin
"Raw" - so lautet das hebräische Wort für Rabbiner. Es heißt so viel wie "Meister" oder "Lehrer". "Die weibliche Form, die Meisterin, die Lehrerin, existiert in den traditionellen hebräischen Schriften nicht", erzählt Jasmin Andriani, 35 Jahre alt - und angehende Rabbinerin.
Rabbinerin oder die Frau eines Rabbi?
Ihr Berufsziel ist ungewöhnlich, immer noch: in Deutschland, in Frankreich, besonders in Israel. Eine israelische Freundin etwa hat sie komplett missverstanden, als sie ihr davon berichtete. "'Ah, Du wirst Rebezzin'", habe sie gesagt, erzählt die junge Berlinerin mit einem leichten Lächeln. Rebezzin - die Frau eines Rabbi.
Aber Jasmin Andriani will nicht die Frau eines Rabbi sein. Sie will selbst die Thora auslegen, auf der Synagogenkanzel stehen, Paare vermählen und Verstorbene zu Grabe tragen. 2020 soll sie nach acht Jahren Studium am Potsdamer Abraham Geiger Kolleg ordiniert werden. Es wurde am 17. August 1999 gegründet - als erste Ausbildungsstätte des Reformjudentums in Kontinentaleuropa nach der Schoa.
Andriani tritt in große Fußstapfen: Die Berlinerin Regina Jonas, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde, war die erste Rabbinerin weltweit. Ganz in der Nähe von Andrianis Wohnung in Berlin-Schmargendorf arbeitete Jonas vor rund 80 Jahren in einem jüdischen Altenheim als Rabbinerin. "Das hat für mich schon einen Gänsehautfaktor", sagt Andriani.
Das liberale Judentum hat seinen Ursprung in Deutschland, wurde hier ausgelöscht durch die Nationalsozialisten und den Zweiten Weltkrieg. Seit 2010 hat das Abraham Geiger Kolleg bereits fünf Rabbinerinnen ordiniert und drei Kantorinnen in ihr Amt eingeführt; zurzeit sind es insgesamt 26 Studierende, 9 davon Frauen. Etwa 1.000 Rabbinerinnen gibt es weltweit, die meisten in Nordamerika.
"Dort sind diese Berufe für Frauen ganz normal", sagt Aviv Weinberg, die in Jerusalem Gesang studiert hat und am Abraham Geiger Kolleg als Kantorin - Vorsängerin im Gottesdienst - ausgebildet wurde. Seit 2017 arbeitet sie an den Synagogen in Magdeburg und Celle. "Dass ich das geworden bin, ist für mich die Überraschung meines Lebens", sagt die 43-jährige, für die ihre Religion nach eigenen Worten geringe Bedeutung hatte, als sie noch in Israel lebte.
Dort hatte es für sie nur "die Orthodoxen gegeben, die wir sehr skeptisch beäugten" und "uns Säkulare", nichts dazwischen. "Wir wussten nicht, dass es progressives Judentum gibt", so Weinberg. Das begegnete ihr erst in Deutschland - wo sich die jüdischen Gemeinden allerdings auch mehrheitlich aus Menschen zusammensetzen, die ihre Wurzeln in Osteuropa und damit in der Orthodoxie haben. Einmal hatte Weinberg in einer Gemeinde mit Vorbehalten zu kämpfen, weil sie eine Frau ist - was sich dann aber schnell gab.
Eine unerhörte Neuerung ist der Beruf der Kantorin für manche traditionelle Juden vor allem deshalb, weil "die Stimme der Frau" im Talmud als "Blöße" bezeichnet wird, als Sexualattribut. "Wegen dieser Verführungskraft soll die Frau besser schweigen", erklärt es Andriani - ob als Kantorin oder Rabbinerin. Auch sie ist säkular aufgewachsen, zog mit anderthalb Jahren mit ihren Eltern von Tel Aviv nach Berlin. Ihre Großeltern waren in den 1930er Jahren aus Deutschland und Österreich nach Palästina ausgewandert.
„Wir wussten nicht, dass es progressives Judentum gibt“
Andrianis Muttersprache ist Deutsch, Hebräisch musste sie lernen - im jüdischen Kindergarten, in der jüdischen Grundschule. Ihre Eltern, obwohl selbst nicht gläubig, fühlten sich der jüdischen Tradition verpflichtet und wollten ihrer Tochter außerdem die Möglichkeit geben, sich in beiden Welten - Deutschland und Israel - zu Hause zu fühlen.
Durch den Besuch der orthodox geprägten Institutionen war ihr Bild vom Judentum zunächst traditionell: "Ich bin so aufgewachsen, dass nur Männer zum Gottesdienst beitragen und die Frauen abseits sitzen und beobachten", sagt Andriani. Hinterfragt hat sie das nicht. "Das war ganz normal." Als sie mit 15 Jahren erstmals von einer Rabbinerin hörte, fand sie das seltsam. "Für mich klang das total meschugge."
Nicht männlich, nicht bärtig, nicht alt: Dass sie selbst einmal die Kippa auf dem dunkelblonden Haar und einen Gebetsschal tragen, dass sie aus der Thora lesen und predigen würde, hätte Andriani als Jugendliche nicht gedacht. Als Jura-Studentin mit Mitte 20 hörte sie erstmals vom Abraham Geiger Kolleg, ein Freund berichtete von der neuen Ausbildungsstätte für Rabbiner. "Willst Du nicht Rabbiner werden?" fragte sie ihren jetzigen Mann begeistert - der aber keine Lust bekundete. "Werde Du doch Rabbinerin", konterte er, und alle drei lachten über diesen Vorschlag.
Andriani erinnert sich noch ganz genau, wie sie danach ins Badezimmer ging und sich im Spiegel in die Augen schaute. "Rabbinerin werden - warum eigentlich nicht?" dachte sie. Und dabei blieb es dann.
Der Gründer und Rektor des Kollegs, Rabbiner Walter Homolka, spricht sich ausdrücklich für Frauen als Rabbinerinnen aus. Sie brächten definitiv besondere "Qualitäten in ihr Rabbineramt" ein, "in der Pastoral, im Religionsunterricht. Sie stärken die Stimmen der Jugendlichen und Frauen. Das ist demografisch die Mehrheit der engagierten Gemeindemitglieder", so Homolka.
Leicht ist dieser Weg für Jasmin Andriani trotzdem nicht. Auf ihrer To-Do-Liste, die sie noch erfüllen muss, um ordiniert zu werden, steht etwa eine Beerdigung. Dass diese von einer angehenden Rabbinerin - einer Frau - geleitet wird, empfinden aber die allermeisten Gemeindemitglieder als absolut unüblich. Ähnlich die Hochzeit: Verheiratet hat sie gute Freunde von sich zwar bereits - aber ohne ihnen ein offizielles Dokument darüber auszustellen. "In Israel wird es ohnehin nicht anerkannt, wenn eine Frau die Eheschließung unterschreibt", erklärt Andriani und zuckt mit den Schultern, die Frustration ist ihr anzusehen.
Zum Arbeiten in die Synagoge
In die Zukunft blickt sie dennoch optimistisch: Für ihre kleine Tochter ist es jedenfalls ganz normal, dass Mama bald Rabbinerin ist, erzählt Mutter Jasmin und lächelt beinahe triumphierend. "Wenn sie spielt, dass sie zur Arbeit muss und ich sie frage: 'Wohin gehst Du arbeiten - ins Krankenhaus?' Dann schüttelt sie den Kopf und sagt: 'Nein, ich gehe in die Synagoge.'"