So funktioniert Missbrauchs-Prävention vor Ort
Seit Veröffentlichung der MHG-Studie zum Missbrauch wird in der Kirche wieder verstärkt über Prävention diskutiert. Doch wie sehen Konzepte zur Vorbeugung von Missbrauch in der Praxis aus? Katholisch.de hat in einer Pfarrei, einem Kindergarten, einer Schule und einer Flüchtlingsunterkunft nachgefragt. Sie alle haben ein Schutzkonzept erarbeitet, das sich nach der Präventionsordnung der Deutschen Bischofskonferenz richtet und gleichzeitig auf die Gegebenheiten der jeweiligen Institution zugeschnitten ist.
Pfarrgemeinde Sankt Laurentius in Wuppertal (Erzbistum Köln)
Sankt Laurentius ist die erste Pfarrgemeinde im Erzbistum Köln, die ein eigenes Präventionskonzept auf die Beine gestellt habe, berichtet Gemeindereferentin Daniela Löhr nicht ohne Stolz. Bereits seit 2016 ist es in Kraft und wird seitdem erfolgreich angewandt. Das liegt nach Löhrs Ansicht auch daran, dass an der Erarbeitung alle Gruppen der Gemeinde beteiligt waren — von Kindern, Jugendlichen und Eltern über ehrenamtliche Gruppenleiter, bis hin zur Kindergärtnerin und dem Pfarrer. "Dadurch sind die Menschen in unserer Gemeinde wach geworden für das Thema und haben es jetzt auch wirklich verinnerlicht". Diese Vorgehensweise sei viel nachhaltiger, als den Einrichtungen einfach "Top-Down" ein vorgefertigtes Präventionskonzept vorzusetzen.
"Inzwischen gibt es in der Gemeinde eine gute Sprachfähigkeit über die Themen sexuellen Missbrauch und Prävention – das mag profan klingen, ist aber ein ganz wichtiger Faktor", so Löhr. Zu Beginn sei es vielen Menschen schwer gefallen, über das unangenehme und tabubehaftete Thema zu sprechen. Neben einer veränderten Sensibilität für das Thema zieht das Konzept aber auch ganz konkrete Maßnahmen nach sich: Zum Beispiel hängen in den Kirchen jetzt Kummerkästen, in denen Kinder und Jugendliche Zettel mit ihren Ängsten und Sorgen hinterlassen können. "Nicht immer trauen sich Kinder in einer Gruppe oder direkt gegenüber einem Erwachsenen, sich zu beschweren", das hat die Gemeinde laut Löhr bei ihrer Risiko-Analyse zur Vermeidung von Missbrauch festgestellt.
Inzwischen trägt Sankt Laurentius das Thema sogar in die Gesellschaft hinein: Vor einigen Wochen mietete die Gemeinde einen Wuppertaler Kinosaal. Dort wurde dann der Film "Spotlight" über die Aufdeckung des Missbrauchs in den USA gezeigt, anschließend gab es noch eine Podiumsdiskussion. 200 Leute waren dabei. "Kurz nach Erscheinen der MHG-Studie konnten wir so einen Beitrag zur Diskussion direkt hier in unserer Stadtgesellschaft leisten", sagt Löhr.
Kindergarten Lummerland in Lennestadt-Elspe (Erzbistum Paderborn)
Auch für Marion Nolden sind eine Enttabuisierung des Themas Missbrauch und die Entwicklung einer Sprachfähigkeit darüber schon erste wichtige Bausteine für eine erfolgreiche Prävention. "Abstrakt über Missbrauch zu sprechen, das ist leichter, als sich zu fragen: Was sind die konkreten Risikofaktoren hier in meiner Einrichtung, in unserer Kollegenschaft, bei mir?", erklärt die Leiterin des Kindergartens Lummerland in Elspe im Sauerland. Doch genau diesen Fragen hat sich das Team dort gestellt. Das aus diesem Prozess entstandene Schutzkonzept sieht zum Beispiel vor, dass sich der Kindergarten eine neue Schließanlage zulegen will. So kann das Personal noch besser darüber wachen, dass sich während der Bring- und Holzeiten niemand Fremdes ins Haus schleicht.
Außerdem gibt es die klare Regel: "Jeder Wunsch nach Nähe geht vom Kind aus" – wenn ein Kollege/eine Kollegin selbst mal das Bedürfnis hat, ein Kind auf den Arm oder den Schoß zu nehmen, sollte das besser zurückstehen. Und auch ein sexualpädagogisches Konzept hat der Kindergarten erarbeitet. Denn nicht nur Erwachsene, auch die Kinder müssten sprachfähig sein, erklärt Marion Nolden: Nur wenn die Kleinen die entsprechenden Begrifflichkeiten kennen würden, könnten sie es weitergeben, wenn jemand ihre Intimsphäre verletzte. Aufgabe des Kindergartens sei es außerdem, den Kindern Selbstbewusstsein zu geben und "von Anfang an das Gefühl zu vermitteln: Ich bin wertvoll, mein Körper ist wertvoll", sagt Nolden.
Um den Kindern im Kindergarten ein stärkeres Mitspracherecht zu geben, hatte das Team schon vor der Erarbeitung des Präventionskonzepts einen Kinderrat und eine regelmäßige Beschwerdestunde geschaffen. Diese Strukturen helfen jetzt bei der Missbrauchsprävention. Bei den Eltern kommt das Schutzkonzept nach den Angaben der Kindergartenleiterin gut an: "Dass wir uns so intensiv mit dem Thema beschäftigt haben, gibt ihnen Sicherheit". Auch wenn es sich zunächst um ein schwieriges Thema handelt: Im Nachhinein habe es sogar Spaß gemacht, das Konzept zu erarbeiten, findet Nolden. "Sich bei der Prävention stark zu machen, das ist ja ein positiver Prozess. Und jetzt wissen wir, dass wir gut aufgestellt sind".
Willi-Graf-Gymnasium in Saarbrücken (Bistum Trier)
Im Bistum Trier haben sich 20 katholische Schulen zusammengeschlossen, um ein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Schutzkonzept zu entwickeln. Dazu gehören unter anderem eine vorgeschriebene Fortbildung für alle Lehrer, ein Verhaltenskodex, ein Interventionsplan und das Benennen eines Missbrauchsbeauftragten an jeder Schule. Wie Stefan Kilz, Schulleiter des Willi-Graf-Gymnasiums in Saarbrücken erläutert, war auch für die Kollegen an den Schulen der Umgang mit dem Thema zunächst nicht leicht: "Wenn Sie an einer Fortbildung über Missbrauch teilnehmen, ist das schon etwas Anderes, als wenn es etwa um Mediennutzung geht".
In dem zehn Punkte starken Verhaltenskodex, den jeder Lehrer unterschreibt, verpflichten sich die Pädagogen dazu, im Umgang miteinander wertschätzend, aber auch aufmerksam zu sein. Der Interventionsplan soll Schulen im "Worst-Case" helfen. Für den Fall eines Missbrauchs sind hier Schritte festgelegt, wie die Schulen reagieren können – bis hin zum professionellen Kontakt mit der Presse. Die Präventionsbeauftragten schließlich sollen das Thema im Schulalltag wachhalten und auch Ansprechpartner für Schüler sein.
Das Konzept wurde auch im Bistum Trier auf einem partizipativen Weg entwickelt: Von der Schülervertretung über den Elternbeirat bis hin zur Lehrergesamtkonferenz waren alle eingebunden. In der sechsten und achten Klasse beschäftigen sich die Schüler zudem auch im Biologie-Unterricht mit dem Thema Prävention. Neben all diesen formalen Punkten hat Kilz in seiner Schule aber auch eine Art "Kulturwandel" beobachtet: "Schüler und Lehrer sind jetzt sensibler und achtsamer. Sie haben sozusagen ein 'Gefühl' für das Thema Missbrauch entwickelt", so Kilz.
Gemeinschaftsunterkunft für geflüchtete Menschen "Haus Vom Guten Hirten" in Berlin (Erzbistum Berlin)
"Mensch sein – aber sicher", so heißt das Schutzkonzept gegen Gewalt, das das Haus "Vom Guten Hirten" in Berlin entwickelt hat. In der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in Trägerschaft der Caritas können bis zu 108 Menschen wohnen. Hier sind Rahmenbedingungen anders als in einer Schule oder einem Kindergarten: Es geht nicht nur um Kinder, sondern um ganze Familien, die die Unterkunft nicht nur tagsüber besuchen, sondern für einen bestimmten Zeitraum dort leben. Der wichtigste Faktor für eine erfolgreiche Präventionsarbeit ist laut Florence Vettraino, der Leiterin der Gemeinschaftstunterkunft aber der gleiche wie in den anderen Einrichtungen. Es müsste "Bottom-Up" statt "Top-Down" passieren. "Wir haben für unser Schutzkonzept alle mit ins Boot genommen: von der Leitung des Hauses über die Referenten, vom Hausmeister und der Verwaltung bis hin zu den Bewohnern und deren Kindern".
Als eine Konsequenz will die Flüchtlingsunterkunft Kindern in Zukunft noch mehr Partizipation ermöglichen. Gerade wird ein Kinderparlament eingerichtet, das auch das Selbstbewusstsein der Kinder stärken soll. Als sehr hilfreich empfand es Vettraino zudem, dass der Prozess von einer außenstehenden Expertin geleitet wurde. Kerstin Zimmermann, die Präventionsbeauftragte des Caritasverbandes im Erzbistum Berlin, habe das Team immer wieder neu motiviert. Schließlich sei das Präventionsprojekt mit einem langwierigen und nicht immer einfachen Reflexionsprozess verbunden gewesen: Die bisherigen Abläufe und Strukturen mussten selbstkritisch hinterfragt und es musste auch überlegt werden, ob in Bezug auf Prävention vielleicht bisher etwas versäumt wurde.
Übrigens: Das "Haus Vom Guten Hirten" wurde bei seinem Präventionskonzept von der Werner-Coenen-Stiftung des Landes Berlin finanziell gefördert. So entstand eine Broschüre, die anderen Flüchtlingsunterkünften bei der Erarbeitung eines ähnlichen Konzepts eine Hilfestellung geben soll. Darin wird detailliert die Vorgehensweise erläutert und zu den einzelnen Punkten Best-Practice-Beispiele, aber auch mögliche Stolpersteine genannt. Die Broschüre kann hier heruntergeladen werden.